Die Not einer Familie

Von Nathalie Nad-Abonji · 22.09.2012
Flüchtlingen, deren Asylantrag abgelehnt wird, bleibt als letzter Ausweg häufig nur das Kirchenasyl. Derzeit zählt die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" 23 Fälle in ganz Deutschland. In Greifswald hat eine afghanische Familie vor Kurzem ihr "stilles" Kirchenasyl - das heißt ohne mediale Berichterstattung - beendet. Die Familie lebt nach wie vor in den Räumen der Gemeinde.
Früher Nachmittag. Im Dachgeschoss des Kindergartens der Domgemeinde Greifswald streift sich Pastor Gürtler die schwarzen Lederschuhe von den Füssen:

"Hallo Omid. Wir haben uns lange nicht gesehen."
Ahmad: "Ich bin Ahmad."
Gürtler: "Hallo Ahmad."

Familie P. (Name durch die Redaktion geändert) bitten Matthias Gürtler in eines der beiden Zimmer, das sie bewohnen. Den Flur und die Küche müssen sich die zwei Erwachsenen und vier Kinder zumindest tagsüber teilen. Eine Musiklehrerin unterrichtet in den Räumen. Die Einrichtung des Wohn- und Schlafzimmers ist einfach. Hinten links steht ein Esstisch mit vier Plastikstühlen. Davor ein Holzschrank. Die Wände sind freundlich gelb gestrichen und auf den Fensterbänken stehen kleine Grünpflanzen.

Pastor Gürtler setzt sich auf die Couch neben der Tür. Vater Ahmed bleibt stehen mit dem einjährigen Jonas auf dem Arm. Omid und Erfan fletzen sich hin, auf die Couch, neben den Kirchenmann. Arezu, die Älteste, ist auf Klassenfahrt. Mutter Sarah P. bringt auf einem Tablett Tee, Wasser und geschnittene Früchte. Matthias Gürtler greift zu.

Ahmed: "Apfel glaube ich."
Sara: "Nein, Apfel."
Ahmed: "Birne."
Gürtler: ""Ach, Birne? Ah."
Eltern: "Golabi."

Omids 34-jährige Mutter meldet sich auf Persisch zu Wort. Ihr Sohn soll überzusetzen:

"Meine Mutter hat gesagt, wir bedanken uns sehr, sehr viel bei der Domkirche, dass sie uns geholfen hat."

Als die Familie vergangenen Winter hier einzog, hatte sie schreckliche Stunden hinter sich. In der Nacht zum 18. Januar kamen sechs Polizisten in das Asylbewerberheim in Jürgensdorf nahe Neu-Brandenburg, um die Familie abzuholen.

Die Eltern sollten mit ihren vier Kindern - das jüngste war vier Monate alt - per Flugzeug nach Norwegen gebracht werden. Dort hatte die Familie ihren ersten Asylantrag gestellt. Damit war der skandinavische Staat für das Asylverfahren zuständig. Während Sarah P. die Habseligkeiten der Familie packte, erlitt sie einen Schock und brach zusammen. Zu diesem Zeitpunkt schlief der 15-jährige Omid noch:

"Als ich aufgewacht bin, lag meine Mutter auf dem Boden. Weil sie war voll krank. Als ich aufgewacht bin, war das richtig ein Schock für mich. Sie meinten, meine Mutter muss erst mal ins Krankenhaus. Und dann entscheiden wir weiter, wann ihr nach Norwegen fliegen müsst."

Kurze Zeit später erfuhr Pastor Gürtler im Greifswalder Dom von der Not der Familie:

"Wir hatten also im Januar - das ging alles innerhalb von Stunden - die Anfrage von unserem Diakonischen Werk, ob wir bereit wären, eine afghanische Familie ins Kirchenasyl aufzunehmen."

Der Pastor rief den Gemeindekirchrat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Andres Ruwe, Mitglied des Gemeindekirchrates und Theologe, war dabei:

"Sie fand hier in der Sakristei statt. Es war abends nach einer Ausstellung. Wir saßen in einer Runde zusammen. Es waren Repräsentanten des Diakonischen Werkes da. Die haben uns den Fall berichtet und genau dargelegt. Wir hatten die Gelegenheit, Rückfragen zu stellen. Ungefähr eine Stunde."

Einstimmig votierte der Gemeindekirchrat dafür, die Familie aus Afghanistan vor einem erneuten Abschiebungsversuch zu schützen:

Gürtler: "Das hat mein Grundgefühl gestärkt, wenn es drauf ankommt, dann kann ich mich auf die anderen verlassen. Und wir kommen doch irgendwie aus einer Denkrichtung, aus einer Glaubensrichtung. Das ist eine gute Erfahrung."

In Ihrer Notunterkunft im Dachgeschoss des Kindergartens sitzt Sarah P. auf der Couch. Sie ist eine schöne Frau mit hohen Wangenknochen. Die dunklen Haare lugen unter dem Kopftuch hervor. Wieder soll ihr Sohn übersetzen.

Omid: "Ich und meine Familie wir haben vor drei Jahren und drei Monaten Afghanistan verlassen."

Zuvor hat Vater Ahmed das Haus verkauft, um später die Schlepper bezahlen zu können. 14.000 Euro verlangten sie. Die Familie überquerte die Grenze in den Iran bei Nacht. Von da aus ging es weiter in die Türkei.

In einem türkischen Küstenort bestiegen die sechs mit vielen anderen Flüchtlingen ein kleines Boot. Es soll sie nach Griechenland bringen, erzählt Omid, dessen Name auf Persisch Hoffnung bedeutet:

"Vier Stunden in einem Boot. Das Wasser war richtig kalt. Alle hatten Angst. Wir hatten auch gehört, viele Leute sind ertrunken."

Von Griechenland flog die Familie nach Norwegen. Dort stellte sie einen Asylantrag. Doch die Chancen auf einen geregelten Aufenthalt standen schlecht. Im Gegensatz zu Deutschland schiebt Norwegen nach Afghanistan ab.

Omid: "Obwohl meine Mutter schwanger war. Aber Norwegen war es egal, was mit den Leuten ist. Norwegen wollte unsere Familie nach Afghanistan abschieben."

Mit dem Bus reiste die Familie nach Deutschland, wo sie sich bis zur versuchten Abschiebung in Sicherheit wähnte.

Warum Sara P. mit ihrem Mann und den Kindern Afghanistan verlassen musste, erklärt der Rechtsanwalt der Familie, Thomas Wanie:

"Die Zustände in Afghanistan sind genau wie vor zehn Jahren: desolat. Und natürlich sind die Schwächsten der Gesellschaft die, die es vorher waren. Nämlich die Frauen und die Kinder, die darunter leiden. Das ist nicht nur in Herat so. Der gesamte Südkorridor, also Grenzgebiet zu Pakistan, ist auch von deutschen Gerichten als ein Gebiet anerkannt, in dem Bürgerkrieg herrscht."

Die älteste Tochter Arezu, damals 13 Jahre alt, sollte an einen Onkel väterlicherseits zwangsverheiratet werden.

Thomas Wanie: "Auf der Straße wurde ihr das Kopftuch vom Kopf gerissen. Sie wurde mit dem Motorrad umrundet, so eine Drohgebärde von einem Unbekannten. Ihre Tochter wurde beschimpft, sie wurde beschimpft als Ungläubige. Sie wird schon sehen, was passiert, wenn sie sich weigert, ihre Tochter zu verheiraten."

Im Dom erinnert sich Pfarrer Gürtler daran, dass mit dem Beschluss der Familie Asyl zu gewähren, die Arbeit erst begann:

"Wir wussten ja auch, wir müssen die Familie auch über Wasser halten. Wir müssen die ernähren, wir müssen die finanzieren. Da kommt einiges auf uns zu. Aber ich bin ein Mensch, der sagt gewöhnlich, ich gehe da erst mal mit Mut ran an die Sache. Oft finden sich Wege. Manchmal ungeahnte Wege, die man gar nicht gekannt hat."

Das erste Problem mit dem sich eine Gemeinde, die Flüchtlingen Unterschlupf bietet, befassen muss: Während des Kirchenasyls besteht kein Anrecht auf staatliche Leistungen. Die Gemeinde muss für den Schutzsuchenden aufkommen, erklärt der Rechtsanwalt Thomas Wanie:

"Das hindert oft kleinere Gemeinden daran, so etwas überhaupt zu machen. Obwohl sie ganz klar erklärt haben, machen wir, machen wir. Wenn es um das Geld geht ist es so, dass Gemeinden sagen, das schaffen wir nicht. Hier im Bundesland ist es so, dass es nur die Gemeinden leisten können, die in den größeren Städten sind und dort ist es auch passiert."

In Greifswald hat sich ein eigener Unterstützerkreis eigens für diese Familie P. gegründet. Dessen Mitglieder kümmern sich um alles - auch um Finanzielles:

"Natürlich müssen wir haushalten, das ist völlig klar. Die haben von uns 100 Euro pro Woche bekommen. Eine sechsköpfige Familie! Damit würde kaum noch einer auskommen. Und dann haben wir natürlich, wenn die Schuhe brauchten, versucht gezielt danach zu gucken. Natürlich würde auch unsere Möglichkeit, sie zu finanzieren, irgendwann erschöpft sein. Das ist völlig klar. Aber zur richtigen Zeit ist dann auch wieder die Finanzierung durch den Staat aktiviert worden."

Auch die ärztliche Betreuung der traumatisierten Sarah P. wird vom Unterstützerkreis organisiert. Die Behörden sind von Anfang an über das Kirchenasyl informiert gewesen.

Rechtlich gesehen hindert die Polizei nichts daran, die Flüchtlinge aus der Kirche zu holen. Doch die bisherige Geschichte des Kirchenasyls zeigt, dass die meisten Behörden erst mal abwarten.

Je länger die Situation andauert, desto schwieriger wird es für alle Beteiligten - auch für die Mitarbeiterinnen des Kindergartens.

Gürtler: "Es gab schon die Frage, das ist doch eine ziemliche Belastung. Müssen wir das jetzt so lange aushalten? Gibt es da keine andere Lösung? Natürlich, das sind Räume, die auch in Anspruch genommen werden. Die eben auch andere Zwecke haben. Müssen wir die so lange zur Verfügung stellen? Die Fragen kamen schon und ich muss dann Rede und Antwort stehen."

Pastor Gürtler versucht zu vermitteln und auf beiden Seiten das Gespräch zu suchen.

Neben all den Problemen gibt es für den knapp 50-Jährigen auch viele positive Erfahrungen:

"Dass eine Schule, die Waldorfschule, gesagt hat, wir nehmen die Kinder auf. Die haben nicht gefragt nach Versicherung und Recht. Sondern haben gesagt, wir sehen, das ist jetzt nötig. Wir sehen, die Kinder können nicht zu Hause hocken. Die gehören in die Schule. Und inzwischen sind die da gut beheimatet. Und dann einfach der Charme der Kinder. Es ist herrlich zu erleben, wie die Kinder sich da wohlfühlen. Die haben es wahrscheinlich leichter."

Ende Juni hat Deutschland das Verfahren übernommen und ist somit für den Asylantrag der Familie zuständig. Grund für diese Wende ist nicht zuletzt Sara P.s Krankheit. Omid erzählt, dass seine Mutter nachts oft einfach nur dasitzt. Das Warten ist solange nicht vorbei, bis die Familie einen geregelten Aufenthalt hat:

Pastor Gürtler: "Es war schon das Ziel, dass Deutschland in das Asylverfahren eintritt und dann letztendlich auch, das Deutschland, unser reiches Land, gestattet, dass die Familie hier bleiben kann."

Wie lange es dauern wird, bis die Behörden diese Entscheidung getroffen haben, lässt sich nicht sagen. Es kann morgen sein oder in einem halben Jahr.

Links bei dradio.de:
"Das Gebot, Fremde zu schützen"
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