Die neue Glaubwürdigkeit des Westens

Von Richard Herzinger · 30.03.2011
Die Umstürze in der arabischen Welt haben auch die strategische Orientierung des Westens kräftig durcheinander gebracht. An der Frage einer militärischen Intervention in Libyen brachen Veränderungen im Verhältnis der westlichen Mächte untereinander auf, die sich lange unter der Oberfläche abgezeichnet hatten.
Die Neugruppierung brachte ein überraschendes Bild zu Tage: In der Koalition der Entschlossenen, die dem Krieg des Diktators Gaddafi gegen das eigene Volk durch Luftangriffe Einhalt geboten, fanden sich die alten Siegermächte des Zweiten Weltkrieg wieder. Dagegen beschritt Deutschland den Sonderweg des Heraushaltens und droht einmal mehr in eine isolierte Schaukelposition zwischen den Welten zu geraten.

Wie weggeblasen schienen im Fall Libyen die Jahre des Irak-Kriegs, als sich die USA und Frankreich gegenseitig beinahe wie Feinde behandelten. Amerikaner, Briten und Franzosen zogen nun wieder wie selbstverständlich an einem Strang – wobei die anhaltend geschwächten USA nicht mehr die alles dominierende Führungsrolle beanspruchten, sondern sich - vor allem von Frankreich - eher zögerlich in die Militäraktion drängen ließen. Die damit verbundene Aufwertung Europas wird jedoch durch die offen ausgebrochene Rivalität zwischen Frankreich und Deutschland um die Dominanz in der EU konterkariert. An eine einheitliche EU-Außenpolitik ist jetzt weniger zu denken denn je.

Dabei hat das in buchstäblich letzter Minute zustande gekommene, eher improvisierte Einschreiten gegen ein drohendes Massaker in Libyen Erstaunliches bewirkt. Den Unkenrufen deutscher Bedenkenträger zum Trotz hat die Intervention keine neue Welle antiwestlicher Ressentiments in der arabischen Welt ausgelöst. Im Gegenteil: Wann hat man zuletzt bewaffnete arabische Aufständische gesehen, die begeistert französische, aber auch amerikanische Fahnen in die Höhe reckten? Genau das haben die libyschen Rebellen bei ihrem Vormarsch gegen die Reste der Gaddafi-Armee getan.

Auch in Ägypten fand der westliche Militärschlag quer durch die verschiedenen Strömungen der Demokratiebewegung emphatische Zustimmung. Der Westen hat durch seine beherzte Parteinahme für die libyschen Freiheitskämpfer, und damit für den Fortgang der demokratischen Revolution im ganzen arabischen Raum, nicht nur die strategische Initiative im Nahen Osten, sondern auch ein gutes Stück seiner schwer ramponierten Glaubwürdigkeit zurück gewonnen.

Der ganze Westen? Nein, Deutschland verspielte die von seinen engsten Verbündeten genutzte Chance, sich nach jahrzehntelanger Kumpanei mit arabischen Despoten vor der arabischen Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Diskreditiert hat sich aber auch das NATO-Mitglied Türkei, deren konservativ-islamische Regierung sich als Schutzmacht bedrohter Muslime überall in der Welt aufspielt. Nun aber torpedierte sie den Libyen-Einsatz der Atlantischen Allianz, weil sie darin offenbar eine größere Gefahr für die libysche Bevölkerung sah als in dem Schlächter Gaddafi. Kein Wunder: Noch im Dezember hatte sich Ministerpräsident Erdogan in Tripolis mit dem obszönen "Gaddafi-Menschenrechtspreis" bekränzen lassen.

Obwohl sich die NATO am Ende doch noch zusammenraufen konnte, wurde deutlich, dass sie in Zukunft wohl nur noch als nachgeordnetes Instrument zur Koordination primär eigenmächtig definierter Nationalinteressen Bedeutung haben wird. Der Libyen-Konflikt zeitigt somit ein paradoxes Resultat: Der Westen hat nach jahrelanger, durch die Bedrängnis im Irak und in Afghanistan bedingte Defensive bewiesen, dass er noch immer zu schneller und effektiver Aktion, zum Schmieden breiter Allianzen sowie zum Einstehen für seine Freiheitsideale fähig ist. Zugleich aber ist sein harter Kern einstweilen wieder auf die historische angelsächsisch-französische Achse der klassischen westlichen Demokratien zusammengeschrumpft. Ohne Gewissheit, ob diese dauerhaft tragfähig ist.

Richard Herzinger, Dr. Phil., Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als politischer Korrespondent der "Welt" und der "Welt am Sonntag". Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und arbeitete als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "Die Zeit". Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns – ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".
Richard Herzinger
Richard Herzinger, Journalist und Buchautor© DIE ZEIT