Die neue Diaspora

Von Marlene Halser · 21.10.2011
Berlin ist beliebt bei Israelis - vor allem bei jungen Künstlern. Viele von ihnen fühlen sich in ihrem Heimatland als Außenseiter. Ihre politische Kritik und ihre Kreativität sind dort wenig gefragt. In der deutschen Metropole hingegen finden sie Gleichgesinnte.
Gabriel S. Moses ist in Berlin, weil er hier fand, was er in Israel lange Zeit gesucht hatte: einen Verlag, der seine Graphic Novels drucken wollte. "Subz. Biografien aus der israelischen Vorstadt" lautet der Titel seiner neuesten Arbeit. Darin schreibt er:

"Ich wuchs in einem Ort namens Makabim auf. Wir haben den ganzen Tag über nichts anderes getan, als an einer Kreuzung, die wir Kikar nannten, auf einer Bank abzuhängen und Bier zu trinken. Wir, das waren die Söhne und Töchter derjenigen Männer im Militär, die sich um die Katastrophen kümmerten, über die man jeden Tag in der Zeitung lesen konnte. Während sie in der Stadt inmitten einer brennenden Straße Körperteile aus dem Buswrack aufsammelten, lehnten wir uns zurück, genossen unseren Acid-Trip und beobachteten von unserem privaten kleinen Winkel im Inneren des Höllenschlundes, wie die Flammen Hoch in den Himmel loderten."

"Funny Place Israel" nennt Gabriel S. Moses sein Heimatland im Comic. Gemeint ist damit auch sein Heimatort Makabim. Einerseits ist es in der Vorortsiedlung beschaulich, ja zum Gähnen langweilig. Andererseits liegt Makabim direkt an der Grüne Linie, die Israel von den Palästinensergebieten trennt. Der Nahostkonflikt ist also im wahrsten Sinne des Wortes nur einen Steinwurf entfernt. Und so werden die Vorstadtkids wie alle israelischen Jugendlichen nach der Schule zum Militärdienst eingezogen. Ein traumatisches Erlebnis, das einen von Gabriels Freunden in der Graphic Novel das Leben kostet - eine unverhohlene Kritik am Militärdienst in Israel.

"Natürlich gibt es Fanatiker auf beiden Seiten und ja, man braucht das Militär. Die Frage ist, wie man es einsetzt und wer das macht. Da gibt es so viele offene Fragen, die nicht gestellt werden. Das Militär in Israel zu kritisieren ist ein Tabu. Und die Tatsache, dass die Menschen das alles einfach akzeptieren und damit leben und einen dafür kritisieren, wenn man etwas ändern möchte, das leuchtet mir einfach nicht ein."

Moses selbst hat den Militärdienst deshalb umgangen.

"Ich habe sie einfach davon überzeugt, dass es eine verdammt blöde Idee wäre, mir eine Waffe in die Hand zu geben. Einen Teenager, der auf eine Kunstschule geht und Comics zeichnet und ziemlich depressive Musik wie Radiohead und Joy Division hört, dazu zu zwingen, drei Jahre seines Lebens herzugeben, für etwas, für das er sich absolut ungeeignet fühlt, das kann nicht gut gehen. Das ist entweder total ineffizient oder endet mit Selbstmord."

Die Militärs glaubten ihm und stuften ihn als ungeeignet ein. Immer mehr israelische Jugendliche gehen diesen Weg. Trotzdem hält die Mehrheit der Israelis Verweigerer wie Gabriel S. Moses für Verräter. In Berlin dagegen fand er Gleichgesinnte.

Eine davon ist die 23-jährige Sängerin Mary Ocher aus Tel Aviv:

"Nach meiner Verweigerung gelang es mir zwei oder drei Jahre lang nicht, mich in die israelische Gesellschaft zu integrieren. Ich fand keinen Job, hatte keine Routine. Also versuchte ich verzweifelt, einen Platz außerhalb des Mainstreams zu finden, an dem ich funktionieren konnte. Aber ich fand keinen. Die einzige Zukunft, die ich mir vorstellen konnte, war die eines einsamen Freaks, der auf Kosten seiner Eltern sein Dasein fristet, bis diese sterben. Erst mit 20 fand ich heraus, dass ich ganz einfach das Land verlassen kann und irgendwo anders ein neues Leben beginnen kann, wo mir kein so starker Widerstand entgegenschlägt."

Dieser Ort war Berlin. Ebenso wie der Comiczeichner fand auch sie Gleichgesinnte und ein Plattenlabel, bei dem sie ihre Lieder veröffentlichen konnte. "War Songs" heißt CD, die sie zu Beginn des Jahres veröffentlichte. Das Konzeptalbum enthält 14 Protestsongs, in denen Ocher niemanden darüber im Unklaren lässt, was ihr an Israel nicht gefällt.

Nicht nur ihre Weigerung, als Soldatin für ihr Land zu kämpfen, machte Ocher zur Außenseiterin. Als gebürtige Russin, die nach den jüdischen Religionsgesetzen nicht als Jüdin gilt, fühlte sie sich schon früh ausgeschlossen. Darüber hinaus scheint das kleine, von allen Seiten bedrohte Land junge Künstler und deren Kritik und Kreativität wenig zu schätzen.

"In Israel ist es unmöglich, als Musikerin zu überleben. Die Aufträge sind nicht stabil und für die meisten Gigs wird man nicht bezahlt, besonders für kleine Auftritte, wie ich sie habe."

Auch der Fotograf Benjamin Reich fühlte sich in seiner Heimat als Außenseiter. Jedoch aus völlig anderen Gründen: Der 33-Jährige wuchs in Bnei Brak und Zichon Jaakov auf, in Städten also, in denen ausschließlich strenggläubige Juden leben.

"Wir waren abgeschnitten von der Welt, hatten keine Zeitung, kein Radio und natürlich keinen Fernseher. Einerseits war das sehr schön, denn so blieb man pur, rein von der Außenwelt. Gleichzeitig verengt das das Blickfeld."

Statt sich dem Studium der Thora zu widmen, zeichnete Reich lieber. Mit 13 zog er nach Jerusalem, um dort auf eine religiöse Schule zu gehen. Eine neue Welt:

"Die christliche Welt war sehr nahe an Mea Shearim und zu meiner Jeshiva. Also schlich ich mich dorthin. Abends ging ich zu den Kirchen in der Altstadt. Das Christentum zog mich damals stark an. Ich glaube, ich fühlte mich von der Schönheit angezogen, den Ikonen, der Geschichte von Jesus, die in Bildern erzählt wird. Das alles erschien mir wie ein Fenster, das mich mit der Spiritualität verbindet, der Heiligkeit in Bildern, mit Gemälden und Zeichnungen. Ich glaube, ich habe schon damals beschlossen, dass ich so etwas auch einmal machen würde."

Es sind diese Eindrücke, die sich noch heute in seinen Bildern wiederfinden. Sie zeigen jüdische Symbolik. Und gleichwohl betrachtet Reich seine Religion mit einer unermesslichen Sehnsucht nach Schönheit und Sinnlichkeit. Schon früh wurde Reich die ultraorthodoxe Welt zu eng.

"Es war sehr wenig, was ich tat. Ich begann vielmehr Dinge nicht zu tun, die ich tun sollte. Ich hielt mich nicht mehr an die Gesetze, betete nicht mehr am Morgen, sprach keinen Segen mehr über das Brot. Ich hatte immer weniger Schuldgefühle dabei und glaube immer mehr daran, dass ich mein Leben auch ohne die Regeln der Gemeinschaft führen kann. Aber das war eine sehr einsame Reise."

Eines Tages schnitt er sich die Schläfenlocken ab und verließ die Gemeinschaft. Doch auch im säkularen Tel Aviv fühlte er sich fremd. Erst in Berlin, fern ab der Heimat, fand er ein Zuhause.

"Ich habe hier ein Bild von Israel, das meiner Vorstellung entspricht. Von Berlin aus liebe ich Israel. Wenn ich ihn Israel bin geht mir das nicht so. Ich bin wie die israelophilen Deutschen. Ich verstehe zwar nicht, wie sie Israel so gerne mögen können, aber ich glaube, ich bin genauso."


Service:

Einige von Benjamin Reichs Fotografien sind vom 16. September 2011 bis 29. Januar 2012 in der Ausstellung "Heimatkunde. 30 Künstler blicken auf Deutschland" im Jüdischen Museum in Berlin zu sehen.