Die Mythen einer Familie

04.11.2010
Fritz Rudolf Fries wurde in Spanien geboren und kam im Krieg im Alter von sechs Jahren in die spätere DDR. Sein neues Werk ist eine Art Autobiografie mit stark literarischen Zügen und damit die Aufarbeitung seiner weit verzweigten Familiengeschichte.
Fritz Rudolf Fries war in der DDR der Vermittler spanischer und lateinamerikanischer Literatur. Er wurde 1935 in Bilbao geboren, kam als Sechsjähriger nach Leipzig, erlebte die Bombennächte, den Einmarsch der Amerikaner und anschließend der sowjetischen Armee. Seine spanische Großmutter, die fremd und ohne die deutsche Sprache zu beherrschen mit nach Leipzig gekommen war, geistert wie eine literarische Chiffre durch viele Texte von Fries.

Der neue Roman des mittlerweile 75-Jährigen hält sich in vielen Details an autobiografische Erfahrungen dieser Zeit: Die Großmutter nimmt einen breiten Raum ein, die Mutter und ihre Geschwister, der Vater: Nachdem er sich beim schlimmsten Bomberangriff auf Leipzig am 20. Februar 1944 im Keller noch schützend vor seine Familie gestellt hatte, wurde er im selben Jahr als Soldat in Assisi von Partisanen getötet.

Obwohl alles autobiografisch ist, legt sich doch ein weit gespanntes literarisches Netz über die Figuren. Literische Realität ist immer eine andere: Es geht auch um nicht gelebte Möglichkeiten einer Biografie, auch um mögliche Zuspitzungen und Radikalisierungen. Die Grundlage des Erzählens ist, dass die Hauptfigur Chico Jahrzehnte später mit seinen Cousinen Clara und Concha die Mythen der Familiengeschichte durchforscht und von den eher pragmatischen Frauen in seinen plastischen Schilderungen und Ausmalungen immer wieder kritisch hinterfragt wird.

Das farbige, exotische Panorama, das Fries gerade als DDR-Schriftsteller immer so überraschend und phantastisch gestaltet hat, bildet auch hier die Basis: die Mischung zwischen sächsischem Alltag, realen sozialistischen Gegebenheiten und südlich-romanischem Flair. Die Familie ist weitverzweigt: Ein Onkel ist in den USA, ein anderer lebt eine Doppelexistenz als undurchschaubarer Agenturjournalist und Agent in Buenos Aires. Zeitungsauschnitte aus dem "Time Magazine" und "El Mundo Argentino" beleben die Phantasie des heranwachsenden Chico auf das Heftigste. Und die Leidenschaft für den Jazz, die Movens für Fries’ großartigen Roman von 1966 "Der Weg nach Oobliadooh" war, wird hier nachvollzogen: Jugendfreund Falk in Berlin-Lichtenberg war der Ausgangspunkt für Exkursionen in das Westberliner Jazzlokal "Badewanne".

Die Kunst erscheint als das eigentliche Lebensmittel. In ihrem Licht erleben wir Chicos Geld- und Liebes-Wirren hautnah mit. Fries ist eine durch und durch ästhetische Existenz, gerade deswegen wurde er immer wieder argwöhnisch beäugt. Auch seine Verbindung zur Stasi, auf die die Medien immer reflexhaft zurückkommen, wird in diesem Roman verarbeitet. Man sollte Fries vor allem in seiner Eigenschaft als herausragenden Schriftsteller beurteilen.

Besprochen von Helmut Böttiger

Fritz Rudolf Fries: Alles eines Irrsinns Spiel
Verlag Faber & Faber, Leipzig 2010
330 Seiten, 19 Euro