"Die Marktmacht der Konsumenten ist hoch"

Wolf Lotter im Gespräch mit Katrin Heise · 09.09.2013
Wenn sich in der Wirtschaft etwas ändern solle, dann müssten die Käufer aufhören, sich von der Werbung manipulieren lassen und jedem Trend hinterherzulaufen, findet "brand eins"-Journalist Wolf Lotter. Dass bereits Zehntausende Fairphones als Alternative zum iPhone verkauft wurden, hält er für ermutigend.
Katrin Heise: Am Beispiel von Apple und iPhone, iPad und so weiter kann man ganz wunderbar sehen, mit welch geschickter Mischung aus Lifestyle, Event und Geheimniskrämerei der Konsument zum Kauf animiert wird. Seit Wochen wird über das iPhone 6 in der Netzgemeinde spekuliert, morgen wird das Objekt der Begierde wohl wahrscheinlich präsentiert und sicherlich massenhaft gekauft dann.

Der Autor und Journalist und Gründer des Wirtschaftsmagazins "brand eins" Wolf Lotter will trotz derlei Markttendenzen den mündigen Bürgerverbraucher in einem Zivilkapitalismus erkennen.

Das muss er uns mal genauer erklären, schönen guten Tag, Herr Lotter!

Wolf Lotter: Schönen guten Tag, Frau Heise!

Heise: Jedes Jahr ein neues iPhone, das noch mehr kann als das alte! Was wir bei Apple erleben, das ist doch Bedürfnissteuerung in Reinform, oder?

Lotter: Ja, Bedürfnissteuerung ist ein großes Wort. Wenn so viele Menschen auf der ganzen Welt ihre Bedürfnissteuerung so freiwillig aus der Hand geben und nichts anderes tun als darauf zu warten, dass der Vatikan wieder ein neues Handy veröffentlicht, dann muss man irgendwann auch über die Frage Selbstverantwortung reden. Und Entscheidungen.

Ich meine, wenn so viele Hunderte Millionen Menschen unbedingt ein iPhone haben möchten, dann ist das für mich total okay. Die Frage ist nur, ob man das dann immer Apple anlasten kann. Wenn die Leute finden, dass das iPhone nicht okay ist oder doof ist oder unter schlechten Bedingungen gemacht wird - das war ja die Diskussion, die wir in den letzten Jahren intensiv hatten -, dann müssen sie auch dagegen was unternehmen. Das Unternehmen auffordern, was dagegen zu machen, oder es nicht kaufen.

Heise: Ich lese bei Ihnen, das i vom iPhone steht für individual. Das meinen Sie jetzt aber ironisch, oder?

Lotter: Das meine ich durchaus ironisch! Wir sehen ja, wie im Zeitalter der Vielfalt, die zumindest potenziell möglich ist heute, die Leute immer noch alten Verhaltensmustern nachlaufen und das tun, was alle anderen tun, und nicht einfach sagen, so, jetzt mache ich es mal anders, ich kann das auch. Dazu muss man die Bereitschaft haben, die Dinge aber mal zu lernen und anders zu sehen, möglicherweise, nur mal den Blickwinkel zu ändern. Und deshalb ist das i natürlich heute bei den Apple-Produkten Irony, ironisch!

Heise: Natürlich kann ich dem iPhone-Kauf widerstehen und insofern bin ich tatsächlich Herr meiner eigenen Entscheidung.

Lotter: Okay.

Heise: Sie haben gerade angesprochen dieses Lifestylediktat, den erzeugten Peergruppendruck. Den dürfen wir ja nicht außer Acht lassen. Woran erkennen Sie denn eigentlich zum Beispiel beim iPhone diesen selbstbewussten, emanzipierten Verbraucher? Oder gibt es ihn eben noch nicht, muss er erst herangezogen werden?

Lotter: Na ja, ich glaube, dass man einfach jetzt mal sehen muss, was man selber braucht, um Entscheidungen zu treffen. Das haben wir nirgendwo gelernt. Wir lernen im Grunde genommen in allen Institutionen, vom Kindergarten an, dass wir mitmachen und uns im Kollektiv einordnen, nach wie vor, auch wenn wir so tun, als ob es nicht so ist.

Das neue iPhone 5 kommt am 21. September in den USA, Deutschland und sieben weiteren Ländern auf den Markt.
Das iPhone 5© picture alliance / dpa / Christoph Dernbach
"Zivilkapitalismus bedeutet, die Welt verstehen"
Deshalb ist das i ja auch immer noch ironisch, egal, auf welcher Ebene. Wenn wir uns zu entscheiden lernen würden, würden wir mit dieser ganzen Komplexität an Technik, an Politik, an Wirtschaft und was es alles so gibt, viel leichter umgehen können. Uns fehlen ein bisschen die Techniken, die Zugangstechniken, die nicht gelernt werden, das brauchen wir aber in einer Welt, die sehr vielfältig ist. Und da setze ich sozusagen an und sage, Zivilkapitalismus bedeutet, die Welt verstehen, die Wirtschaft verstehen, um nicht so abhängig zu sein und nicht dumm nachlaufen zu müssen, wenn etwas passiert wie, wenn zum Beispiel ein neues Telefon auf den Markt kommt.

Heise: In Ihrem Zivilkapitalismus braucht es den Bürgerverbraucher. Dieser Bürgerverbraucher steht für mich am Ende einer Reihe, also einer Lernreihe. Aber von wem lernt der Bürgerverbraucher sein Verhalten? Er steht doch mittendrin in der massenpsychologischen Einflussmacht, so hat es Helmut Schmidt mal genannt in seiner Warnung vor eben Raubtierkapitalisten vor ein paar Jahren. Also, wovon soll der Bürgerverbraucher sein Individualverhalten lernen?

Lotter: Ja, so leid es mir tut, nur von sich selbst. Wenn man nicht die Selbsteinsicht hat, irgendwann mal, dass man sich nicht manipulieren lässt, dann wird man weiterhin manipuliert, auch von denen natürlich, die vor Manipulanten anderer Natur warnen. Politiker warnen vor den Ökonomen, Ökonomen vor den Politikern, und so geht es dahin.

Im Grunde genommen geht es nur durch Verantwortung und Selbstständigkeit bei der Entscheidung. Man ist nicht das letzte Glied in der Kette, das sehe ich auch anders, man ist das erste und letztlich entscheidende Glied in der Kette. Und etwas kritisch zu prüfen, kritisch zu fragen, auch wenn es ein bisschen aus der Mode gekommen ist, ist letztlich immer noch die Voraussetzung für ein, ich nenne es jetzt mal, richtiges Leben, für ein selbstbestimmtes Leben.

Heise: Und zwar für Sie im Kapitalismus, unbedingt. Wolf Lotter, Publizist. Wenn wir beim Beispiel Smartphone noch mal bleiben, dem Produkt, das jeder zu benötigen meint: Es gibt eine interessante Alternative zu iPhone, Samsung und Konsorten, nämlich das Fairphone. Das ist ein Nischenprodukt noch, auch ein Touchphone, moralisch zumindest besser hergestellt als andere Mobilphone, und es ist auch ein bisschen günstiger. Aber was bedeuten die da produzierten 20.000 bis vielleicht 50.000 Exemplare gegen die Marktmacht eines multinationalen Konzerns?

Lotter: Das bedeutet, dass sich 20.000 bis 50.000 Menschen dafür entschieden haben, wenn sie es kaufen, etwas anderes zu tun als das, was alle tun. Und das ist nicht wenig. Es ist in diesem Angebot, das es gibt, eine Möglichkeit. Ich glaube nicht, dass das die Welt verändert. Aber wenn wir nach einfachen Lösungen suchen, die sozusagen schlagartig alles besser machen, und sei es nur auf dem Smartphonebereich, dann irren wir uns sowieso. 20.000 bis 50.000 verkaufte Exemplare eines Handys, das eine Alternative darstellt zum Mainstream und zu unter Umständen auch schlechten Produktionsbedingungen, ist eine sehr vernünftige und anständige Anzahl für den Anfang.

"Das Bestehende verändern und anpassen"
Vielleicht kann man aber auch ein ganz normaler Smartphonekäufer von großen Unternehmen sein und bleiben, wenn man Einfluss nimmt auf die Unternehmen und auch klar fordert, dass die ihre Politik ändern und dass die bestimmte Produktionsbedingungen verbessern. Es muss ja nicht unbedingt so sein, dass ich etwas vollständig Neues schaffen muss, sondern ich kann ja auch das Bestehende verändern und anpassen.

Und die Marktmacht der Konsumenten ist in der Tat hoch, wenn sie die sozialen Netzwerke nutzen, wenn sie die Möglichkeit nutzen, den Mund aufzumachen. Das ist eigentlich so wie überall, auch in der Politik, es ist in der Wirtschaft auch: Wer sich meldet, wer sich rührt, der wird auch letztlich gehört werden.

Heise: Wenn wir uns die momentane Debatte mal ansehen, da wünscht sich eigentlich mancher staatliches Eingreifen. Also gerade bei fairen, sicheren Arbeitsbedingungen zum Beispiel. Sie setzen ja immer da eher aufs Gegenteil, oder, auf den Einzelnen, auf dass der Einzelne sich wehren soll und sein Unbehagen anmelden soll. Ist der sogenannte Zivilkapitalismus nicht dann eigentlich nur ein neues Kapitel dieses kapitalistischen Credos, der Markt wird es dann schon richten? Also, wenn genug sagen Nein, dann ändert er sich? So wie Sie eben von Änderungen sprachen.

Lotter: Kommt darauf an, wie Sie Markt definieren. Wenn Sie Markt definieren, so wie ich es mache, als Anzahl von Menschen, die voneinander etwas wollen, dann richtet der Markt in der Tat. Es wird natürlich nicht diese wunderbare Welt, das Paradies geben, in der sie ohne Regeln und Gesetze und auch kollektive Entscheidungen auskommen werden, aber wir können sie wesentlich reduzieren und uns auch kein X für ein U vormachen lassen, indem wir glauben, dass eine immer stärkere Regulierung Außenseiter, negative Entwicklungen verhindert. Das tut es nicht, das hat es auch in der Finanzkrise nicht getan.

Ich glaube, man muss an den Ursachen, an den wirklichen Wurzeln arbeiten, und das ist die Frage des Verhaltens von Menschen in der Ökonomie, aber auch in anderen Bereichen. Wenn wir stärkeren sozialen Druck auf den Einzelnen ausüben untereinander, dann kommen wir auch zu einer besseren Ökonomie.

Das mag ein bisschen utopistisch klingen, funktioniert im Alltag aber ganz gut, wenn wir uns überlegen, wie wenig in unserem normalen Arbeitsalltag, Werktag eigentlich an Betrug und Gemeinheiten passiert. Sonst würden wir ja ständig betrogen werden, bei jedem Bäcker, in jedem Geschäft und in jeder geschäftlichen Handlung. Und so ist es nicht, es bleibt die Ausnahme von der Regel.

Heise: Können wir noch mal gucken, dieses Fairphone und die herkömmlichen Produzenten vergleichen: Kann der alte Kapitalismus von so einer, ich sage jetzt mal, Graswurzelbewegung was lernen?

"Zurück zum Einzelnen"
Lotter: Der alte Kapitalismus ist ein Nachtgeflecht, das es seit über 200 Jahren gibt, aus dem die politischen Parteien entstanden sind, aus dem unsere Kultur entstanden ist, unsere Gesellschaft entstanden ist, der Industriekapitalismus. Ich glaube, der lernt nichts mehr. Wir müssen uns im Grunde genommen auf Selbstständigkeit und auf das Unternehmerische neu definiert verlegen. Es ist nicht zu erwarten, dass eine Reformbewegung sozusagen die Welt besser macht, denn die baut ja im Grunde genommen genau auf diese massenhaften Entscheidungen auf.

Verantwortung zurück zum Einzelnen, der durchaus entscheiden kann, ob er jetzt einen Vertrag unterschreibt und ein neues iPhone kauft oder etwas anderes damit tut. Die Selbstverantwortung bleibt letzten Endes die einzige Frage, die Sie selbst moralisch und ethisch auch regeln können.

Heise: Werden eigentlich in Ihrem Modell des Zivilkapitalismus auch die Verbraucher in anderen Ländern, in Schwellenländern, in sogenannten Drittweltländern dazu ermächtigt, irgendwann so ein mündiger Bürgerverbraucher zu werden? Denn eigentlich brauchen wir doch genau diese günstig, billig oder viel zu billig produzierenden Länder, um eben hier unseren Kapitalismus leben zu können, vielleicht sogar mit der Entscheidungsfreiheit leben zu können?

Lotter: Da ist was dran. Der alte Massenindustriekapitalismus setzt natürlich darauf, dass er sich es einfach macht und seine verlängerte Werkbank in Länder auslagert, wo er nicht nur Schaden anrichtet. Das muss man auch ganz klar sagen, China hat sich als Industriemacht durchaus auch in Wohlständigkeit und - das gilt ja auch für das, wenn Sie so wollen, Glück des einzelnen Bürgers - entwickelt. Nicht perfekt, aber es hat sich entwickelt, verglichen mit dem alten planwirtschaftlichen System.

Deshalb müssen wir natürlich auch immer die Frage stellen, wie entscheiden wir letzten Endes, oder wofür entscheiden, für welche Form entscheiden wir uns von der Ökonomie? In den Schwellenländern, glaube ich, sehen wir eine Demokratisierung. Wir sehen in vielen Fällen, dass der Einsatz von Kapitalismus dazu führt, dass Leute selbstbewusster werden, weil sie einfach wohlständiger werden und nicht mehr alleine um ihre Existenz laufen müssen. In China sehen Sie diese Entwicklung stark, in Indien sehen Sie diese Entwicklung stark. Nicht für alle und nicht hundertprozentig ...

Heise: Ja, eben.

Lotter: Aber die Frage ist immer, wie es vorher war! Wenn Sie die alten politischen Regime angucken, dann lebten eben 95 Prozent in Elend und fünf Prozent, ob es jetzt Funktionäre waren oder Industriekapitalisten im Reichtum.

Heise: Also, da muss man erst mal durch Ihrer Meinung nach?

Lotter: In der Planwirtschaft ist das so. - Na, Veränderungen brauchen Zeit. Ich glaube, dass Veränderung Zeit braucht und dass sie vor allen Dingen keine Wunder gibt, die wir immer empfehlen für die Dritte Welt. Das läuft so nicht. Es gibt in China eine positive Entwicklung, was auch die Demokratisierung angeht, davon bin ich überzeugt, aber es wird noch sehr, sehr lange dauern, dass das messbar oder vergleichbar ist mit dem, was wir uns darunter vorstellen.

Heise: Sagt Wolf Lotter, Autor und Gründer des Wirtschaftsmagazins "brand eins".

Vielen Dank, Herr Lotter!

Lotter: Mitbegründer! Danke schön!

Heise: Mitbegründer! Das Buch von Ihnen trägt den Titel "Zivilikapitalismus. Wir können auch anders", im Pantheon Verlag erschienen, und wird in Berlin übermorgen, nämlich am 11. September in der Urania um 19:30 Uhr vorgestellt.

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Lotter!

Lotter: Danke schön, Frau Heise, tschüss!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema