Die Mär vom ehrenhaften deutschen Soldaten

06.07.2010
Geht es um Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg, ist meist die Rede von der Roten Armee. Bei Wehrmacht und SS hielt sich dagegen lange der Mythos vom ehrenhaften Soldaten. Regina Mühlhäuser räumt damit auf.
Aus einem Ermittlungsverfahren während der Nachkriegszeit:

"Ich war in der SS-Unterkunft. [In einem] Zimmer lag ein SS-Mann ohne Waffenrock, jedoch mit der Hose bekleidet auf dem Bett. Neben ihm, d.h. auf der Bettkante, saß ein junges, sehr hübsches Mädchen, und ich sah, wie dieses den SS-Mann am Kinn streichelte. Ich hörte auch, wie das Mädchen sagte: 'Gel't Franz, Du erschießt mich nicht!' Das Mädchen war noch sehr jung und sprach völlig akzentfreies Deutsch. [...] Ich habe den SS-Mann gefragt, ob dieses Mädchen […] denn wirklich erschossen würde. Der SS-Mann sagte mir, dass die Juden alle erschossen würden, da gäbe es keine Ausnahmen. […] Der SS-Mann sagte sinngemäß, dass das bitter sei. Manchmal hätten sie ja Gelegenheit, diese Mädchen einem anderen Schießkommando zu geben, meistens aber sei hierzu keine Zeit mehr und sie müssten es selbst machen."

Dieses Zitat ist nur eines von sehr vielen, die Regina Mühlhäuser in ihrer Studie zur sexuellen Gewalt anführt, die deutsche Soldaten im Rahmen des Vernichtungskriegs ausübten. Vergewaltigungen werden in doppelter Hinsicht als Kriegsgewalt eingesetzt – nicht nur, um daraus brutalen Lustgewinn zu ziehen, sondern auch, um den gegnerischen Kämpfern vor Augen zu führen, dass sie ihre Frauen und Mädchen nicht schützen können.

Sexuelle Gewalt dieser Art schreibt man gern den anderen zu: Während die Massenvergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee zum traditionellen Bestand deutscher Kriegserzählungen gehören, gilt das nicht für das Ausüben sexueller Gewalt durch die Soldaten der Wehrmacht, der Waffen-SS und durch die SS: Hier hält sich der Mythos von den ehrenhaft kämpfenden deutschen Soldaten weitgehend ungebrochen. Regina Mühlhäuser schließt mit ihrem Buch daher mehr als nur eine Forschungslücke.

Sie untersucht alle Facetten der Sexualität in der Folge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion: nicht nur die Fälle direkter sexueller Gewalt, wie sie im Rahmen der Eroberungen von Dörfern und Städten, aber auch vor Massenerschießungen vorkommen, sondern auch sexuelle Tauschgeschäfte und einvernehmliche Verhältnisse, bis hin zu Liebesbeziehungen zwischen Landsern und Ukrainerinnen und daraus folgende Schwangerschaften und Hochzeiten. Die Autorin schreibt über den verbrecherischen Teil männlicher Sexualität im Krieg – und macht darüber hinaus klar, dass Sexualität stets eine Komponente sozialer Beziehungen darstellt, also eben auch im Krieg vorkommt.

Dort nimmt sie aber, wegen der einseitigen Machtverhältnisse oder infolge von Rassismus besondere Formen an – extrem perfide, wenn Deutsche etwa jüdische Frauen erst vergewaltigten und anschließend, um selbst einer Anschuldigung wegen "Rassenschande" zu entgehen, töteten. Regina Mühlhäuser beschreibt, was Männer tun, wenn sie im Krieg sind und Frauen mit ihnen zu tun bekommen.

Besonders eindrucksvoll gerät ihr das, weil sie auf moralisierende Kommentare verzichtet. Sie schreibt ein Kapitel der Kriegsgewalt am Beispiel des deutschen Vernichtungskriegs, das aber weit darüber hinaus Geltung beanspruchen kann. Denn mit dem Zweiten Weltkrieg hat ja die Ausübung sexueller Gewalt keineswegs ein Ende gefunden. Wie Abu Ghraib oder die Massenvergewaltigungen im jugoslawischen Zerfallskrieg lehren, ist diese Art von Kriegsgewalt bis heute keineswegs aus der Mode gekommen.

Besprochen von Harald Welzer

Regina Mühlhäuser: Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941-1945
Hamburger Edition, Hamburg 2010
416 Seiten, 32 Euro
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