"Die Losung ist Empfindsamkeit und Entschlossenheit"

Moderation: Maja Ellmenreich · 17.08.2005
Der ehemalige Herausgeber der englischsprachigen "Jerusalem Post", Ari Rath, nennt den heutigen Tag den Höhepunkt der Konfrontation im Westjordanland. Allein in Newe Dekalim hielten sich 2000 israelische Jungen mit Messern und Hacken bereit. Empfindsamkeit und Entschlossenheit sei darum die Losung des Tages.
Ellmenreich: Herr Rath, ist der Aufmarsch unbewaffneter Soldaten, auch wenn jetzt die Zwangsräumungen beginnen, ein Zeichen der besagten Empfindsamkeit und Geduld, um die Ariel Scharon gebeten hatte?

Rath: Ja, das war bis heute Nacht. Die Empfindsamkeit besteht noch, aber heute ist die Losung Empfindsamkeit und Entschlossenheit, denn es stellt sich heraus, dass das Drama buchstäblich in diesen Stunden seinen Höhepunkt erreicht, denn es gibt einige harte Kerne von Siedlern und auch von einigen Tausend Jungs, die sich da reingeschlichen haben. In einem Ort alleine, in Newe Dekalim, wo die Konfrontation jetzt am Höhepunkt ist, gibt es über 2000 Jungen, die sich mit Messern und Hacken und so genannten "trockenen Waffen" bewaffnet haben, und das könnte sehr gefährlich sein.

Ellmenreich: Wer sind diese so genannten "jungen Wilden", von denen Sie gerade gesprochen haben, diese ultranationalistischen Israelis?

Rath: Sie sind nicht unbedingt ultranationalistisch. Sie sind auch sehr religiös motiviert. Das sind alles Jungen in den Teenjahren, aber auch jüngere, die eben überzeugt sind, dass das Heilige Land Israels sei und dass man das nicht verlassen dürfte, obwohl es gar nicht stimmt, denn Gaza und diese Gegend war das Philisterland und nicht Teil des Heiligen Lands Israel, aber sie sind überzeugt.

Ellmenreich: Aber Sie wollen ihnen nicht vorwerfen, dass sie die Quellen nicht kennen, dass sie gar nicht wissen, dass sie eventuell um ein falsches Land kämpfen?

Rath: Nein, aber irgendwie war das ein Teil des großen israelischen Reichs vielleicht einmal, aber im Grunde genommen war diese Gegend das Philisterland, und auch die Städte sind auch bekannt. Aber wenn man in einem großen nationalen Strom ist, dann ist alles möglich. Der Glaube Gottes von einigen dieser Siedler ist wirklich unglaublich, wie komisch das auch klingen mag, denn vor kurzem wurde hier übertragen, dass man eine neue Thorarolle, also die Gebetsrollen, in eine Synagoge in diesen Ort reingebracht hat, als ob man jetzt dort einzieht, und sie nicht rausgenommen hat.

Ellmenreich: Was passiert mit den Synagogen, wenn jetzt die Siedlungen zwangsgeräumt werden? Bleiben die Gotteshäuser dort stehen?

Rath: Nein, höchstwahrscheinlich nicht. Das stand jetzt beim Obersten Gerichtshof gerade gestern zur Debatte, aber diese Synagogen sind eigentlich keine heiligen Stätten in dem Sinne, dass sie historische heilige Stätten sind. Das sind Gebäude der Siedlungen und eigentlich Gebetsräume, die an sich selbst keine Bedeutung haben, aber es ist ein sehr heikler Punkt, genauso wie die Friedhöfe.

Ellmenreich: Warum ist das ein sehr heikler Punkt, die Gräber zurückzulassen?

Rath: Weil nach jüdischer Tradition ein Grab nie aufgelöst werden darf, denn das ist die Berührung, da schließt sich der Kreis, die sterblichen Überreste kehren wieder in die Erde zurück, deswegen wird man in Israel außer in Militärfriedhöfen nicht in einem Sarg begraben, sondern nur in Leichentüchern, damit eben der unmittelbare Kontakt zwischen den sterblichen Überresten und der Erde wieder entsteht, und das wird ein großes Problem sein, denn dort sind auch Opfer der Intifada begraben, was man nicht vergessen darf.

Ellmenreich: Das sind Gründe, die die jüdischen Siedler immer wieder angeführt haben. Das sind aber Gründe, die die Israelis auch in Tel Aviv und in Jerusalem bestens nachvollziehen müssten. Wie reagiert die israelische Öffentlichkeit an diesem Morgen auf die Siedler beziehungsweise auf den Abzug?

Rath: Ich bin überrascht, wie viel so genanntes Mitgefühl da zum Ausdruck kommt, auch seitens höherer Militärs, Generäle und des allgemeinen Publikums. Aber dieses Verständnis und Mitgefühl und die Bereitschaft des Nachvollziehens, das wirklich für die Familien ein Drama ist, wird immer geringer, je mehr diese wilden Jungs, die sich da die orange Farbe angeeignet haben von den Protesten in der Ukraine vor Monaten, eben solche Sachen missbrauchen. Jetzt hat es geheißen, dass die Journalisten und Presseleute kennbare Kopfbedeckungen haben sollen, denn man kann nicht wissen, wie sie diese Messer oder Hacken da benützen könnten oder sogar Spritzen - einer wurde verhaftet, der hat Spritzen mit sich gehabt.

Ellmenreich: Was kann nach dem Gaza-Abzug passieren? Was wird aus Blau und Orange? Was kann aus dem Gaza erwachsen?

Rath: Ja, das ist eine der wichtigsten Fragen heute, und auch wie jetzt alle versuchen inklusive eine Reihe von Reservegenerälen, die in den verschiedenen Siedlungen sind, um zu beruhigen, um zu vermitteln, wo sie auf ehemalige Soldaten, die unter ihnen gedient haben, als Gegner treffen. Das wird sich im Großen und Ganzen eigentlich heute und morgen entscheiden. Wenn man letzten Endes doch Gewalt wird brauchen müssen, dann werden die Wunden zwischen Blau und Orange und der Abgrund noch tiefer werden. Wenn man, was wir alle hoffen, trotz dieser Konfrontation, diesen Rückzug, diese Entfernung der Siedler mehr oder weniger ohne Gewalt durchführen wird können, dann ist die Aussicht, dass wir auch diese Wunde heilen können, auch größer. Aber die Frage ist noch offen, denn momentan ist das Land sehr geteilt.

Ellmenreich: Ist das denn vielleicht ein Schritt in Richtung eigenständigen Palästinenserstaat?

Rath: Nicht nur, vielleicht, sondern bestimmt. Wir haben in diesem Gespräch die Palästinenser noch gar nicht angesprochen. Die große Furcht war ja und ist in diesem Moment noch, dass irgendein wilder Hamas- oder Islamic-Dschihad-Kämpfer die Autorität der Palästinenser verletzen wird. Er braucht nur einige Schüsse, und dann geht alles wieder durcheinander. Wenn Sie da im Fernsehen bewaffnete Soldaten gesehen haben, die bewachen eben die Grenze mit den Palästinensern, [...]. Aber zweifellos ist das ein erster ganz wichtiger Schritt zu der endgültigen Bildung eines palästinensischen Staates, und diesbezüglich, glaube ich, hat Israel unter der Führung von Scharon interessanterweise, dem Ministerpräsidenten, den Rubikon für eine Zwei-Staaten-Lösung überschritten.

Ellmenreich: Ariel Scharon, der selbst lange Jahre die Menschen aufgefordert hatte, Siedlungen zu errichten.

Rath: Ja, ganz bestimmt, in jeder Funktion, die er innehatte, ob er Bauminister, Infrastrukturminister, Verteidigungsminister war, hat er immer neue Siedlungen gebaut. Ein Teil dieser Jungs, die jetzt gegen ihn demonstrieren und ihn als Verräter nennen, die hat er vor Jahren aufgefordert: Bitte, ihr müsst jeden Hügel, der frei ist im Westjordanland, einnehmen und eine kleine Siedlung gründen! Ja, aber wahrscheinlich wenn man älter wird und noch Staatsmann und zum zweiten Mal Ministerpräsident dieses Landes oder jedes Landes wird, dann schaut man auch über die Schulter und fragt sich, wie werden die Geschichtsbücher meine Regierungsperiode beurteilen?

Ellmenreich: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann beurteilen Sie den heutigen Schritt beziehungsweise den Schritt der letzten Wochen als einen historischen Schritt, einen historischen Schritt von Seiten der Israelis, der allerdings ohne Gegenleistung der Palästinenser erfolgt?

Rath: Ja, das stimmt, und das wird ja auch Scharon und seiner eigenen Partei vorgehalten, weil er eine Minderheit hat. Aber er hat die Mehrheit im Volk, in den verschiedenen Nachfragen und so. Die Frage ist, wie das jetzt bei den Wahlen zum Ausdruck kommen wird. Interessant ist ja, dass ein großer Gegner in seiner eigenen Partei, ehemaliger Ministerpräsident und Finanzminister, Herr Netanjahu, vor einigen Tagen zurückgetreten ist. Aber die Mehrheit ist dafür. Die Palästinenser bis zu dieser Minute haben die Autorität und haben auch die Extremisten beeinflussen können, dass sie diesen Rückzug nicht stören werden. Ich hoffe, das wird sich halten. Das nächste wird die Frage sein, wann und wo wird es im Westjordanland, im so genannten "Samaria und Judea", weitergehen?

Ellmenreich: Vielen Dank für das Gespräch.
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