Die Lebenslügen der SPD

Von Corinna Emundts · 30.09.2006
Die so genannten Lebenslügen der CDU hat Jürgen Rüttgers ins Gespräch gebracht, über die Lebenslügen der SPD redet kein Mensch.
Das Selbstbild der SPD ist immer noch, Hüterin der sozialen Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt zu sein - Anwältin der Schuftenden, der im Großkonzern atomisierten abhängigen Arbeitnehmer. Sie verteidigt bis aufs Messer Instrumente der Arbeitsplatzsicherung wie den Kündigungsschutz. Den zum Beispiel in Frage zu stellen, ist eines der ganz großen Tabus dieser Partei. Bis heute. Als ob sich die Welt nicht verändert hätte.

Dabei ist es nicht voraussagbar, zu welchem Grad von Beschäftigung der demografische Wandel führt. Es wäre jedoch eine rein optimistische Betrachtungsweise, davon auszugehen dass sich Vollbeschäftigung bei schwindendem Nachwuchs automatisch wieder einstellt.

Die SPD hat zwar in ihrer Regierungszeit zwischen 1998 und 2005 vor allem durch die Hartz-Gesetzgebung prekäre, ungeschütztere Alternativen zum Normalarbeitsverhältnis mit befördert, jedoch findet dies im Grundsatzprogramm noch keine programmatische Entsprechung. Immer wieder scheint die Haltung durch, nur zwischen Arbeitslosen und Arbeitnehmern zu unterscheiden. Für das Wohl der Arbeitnehmer sind in dieser Logik die Gewerkschaften zuständig. Es fehlt der Hinweis, dass bereits ein Drittel der Erwerbstätigen sich in so genannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen befindet, für die im Zweifel weder Betriebsrat noch Gewerkschaft zuständig sind.

Hart ausgedrückt, ist die Gruppe der Menschen in Normalarbeitsverhältnissen (also: unbefristet, sozialversicherungspflichtig beschäftigt), für die Kündigungsschutz überhaupt nur greift, eine von vielen Interessengruppen in der arbeitenden Gesellschaft geworden. Reguläre Stellen werden, so der Trend, durch Minijobs ersetzt. Nach dem Verschwinden des Proletariats gibt es neuerdings das viel unaufälligere "Prekariat", das vor lauter Stress, das Arbeitsleben zu meistern, keine Zeit hat, mit wehenden Fahnen auf die Straße zu gehen. Gemeint ist die steigende Zahl der Arbeitenden, die ihr Geld nicht in festen Jobs verdienen: Leiharbeiter, Beschäftigte mit befristeten Stellen, Minijobber, Selbständige, an der Existenzgrenze entlang schrammende Ich-AGs, Ein-Euro-Jobber sowie alle, die unfreiwillig Teilzeit arbeiten.

Man kann natürlich versuchen, die Zahl der schwindenden "Luxus-Beschäftigungsverhältnisse" durch kluge Wirtschaftspolitik zu erhöhen (gemeint sind die sozialversicherungspflichtigen und unbefristeten Stellen), zwingen kann man die Unternehmen dazu nicht. Und die haben wenig Lust - außer ein paar happy few, die sie unbedingt brauchen und halten wollen - neue Menschen unbefristet neu einzustellen. Warum auch? Man ist ja viel flexibler, kann auf ökonomische Durststrecken viel besser reagieren.

Geradezu erschreckend ist, wie wenig die SPD, die sich seit ihrer Gründung als Arbeitsmarktexpertin ausgibt, die neuen Realitäten des Arbeitsmarktes benennt - und eine zeitgemäße Haltung dazu entwickelt. Die Gruppe der Menschen im erwerbstätigen Alter verteilt sich inzwischen in mehrere Klassen, die höchst unterschiedlich privilegiert sind und sich teilweise überschneiden oder abwechseln: In der Hauptstadt Berlin arbeiten nurmehr 40 Prozent aller Erwerbstätigen in Normalarbeitsverhältnissen. Wenn das die Zukunft ist, muss die SPD aufpassen, nicht zur Klientelpartei der Luxus-Arbeitnehmer und Gewerkschaftstreuen zu verkommen. Daraus ergeben sich heikle Fragen, um die sich die SPD bisher drückt:

Ist bei einer solchen Individualisierung des Arbeitsmarktes und der Risiken der Erwerbsbiografie eine Privilegierung nur jener Beschäftigten durch totalen Kündigungsschutz haltbar - jener, die den Sprung in das unbefristete Arbeitsverhältnis geschafft haben? Bereits heute kommen die jüngeren Generationen nach einer Ausbildung in der freien Wirtschaft überwiegend in befristeten oder atypischen Arbeitsverhältnissen unter, während sie sich einer gut geschützten, hermetisch abgeriegelten Gruppe von meist älteren Unkündbaren gegenübersehen. Es scheint in der Debatte der SPD jedoch ein absolutes Tabu zu sein, den Kündigungsschutz wenigstens einmal in Frage zu stellen, einer Tauglichkeitsprüfung zu unterziehen.

Das SPD-Gegenargument lautet immer, die Veränderung des Kündigungsschutzes würde keine neuen Arbeitsplätze bringen. Kann sein, kann nicht sein. Doch selbst wenn eine Abschaffung nicht zu einem Zuwachs an Arbeitsplätzen führte, würde sie die Durchlässigkeit der beiden Gruppen fördern und für mehr horizontale Gerechtigkeit unter den Erwerbstätigen sorgen, statt eine Zwei- oder Mehr-Erwerbsklassengesellschaft zu zementieren. Ein weiteres Tabu ist die Frage, inwieweit Kündigungsschutz Menschen davon abhält, Arbeitsplätze zu wechseln - also insgesamt Flexibilität behindert. Wer tauscht heute schon einen unbefristeten Arbeitsplatz gegen einen neuen, zwei Jahre lang kündbaren ein? Wer macht das schon, selbst bei hoher Unzufriedenheit?


Corinna Emundts, geb. 1970, schreibt für die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" Online-Kolumnen aus Berlin. Die Politikjournalistin (Theodor-Wolff-Preisträgerin 1995), hat auch für die "Süddeutsche Zeitung", die "Frankfurter Rundschau", "Die Woche" und andere Blätter gearbeitet.