Die lebenslange Sehnsucht nach Textil

Von Sarah Tschernigow · 30.08.2010
An einem Marktstand auf Ibiza verkaufte Guido Maria Kretschmer seine ersten selbst genähten Klamotten - sein erster Kunde war Udo Lindenberg. Danach entwarf er funktionale Berufskleidung. Heute ist er Designer von hochwertiger Haute Couture.
"Meine Initialzündung für Mode war Pina Bausch. Da hab ich Ballett gesehen und gedacht, ich mach Mode. Ich hab da gesehen diese Möglichkeit von Bewegung und Textil. Ich hab richtig geglüht nach der Aufführung, weil ich merke: mein Leben lang werde ich etwas Textiles tun."

Cremefarbene, knöchellange Satinkleider, Tüllröcke aus feinster Spitze und Schleifen mit schwarzem Blumendruck. "Dancing with myself" heißt die aktuelle Kollektion von Guido Maria Kretschmer, die er gleich öffentlich präsentieren wird. Seine Entwürfe stehen für Eleganz, Melancholie und Weiblichkeit.

Bevor der Designer mit dem verschmitzten Lächeln seine fertigen Kleider einem Publikum zeigt, hat er ein festes Ritual: In der Nacht vor der Show tritt er vor seinen Schrank und wünscht den Kleidern Glück. Dabei fällt jedes Mal ein Teil vom Bügel, erzählt er. Ein beruhigendes Zeichen. Lampenfieber und Stress sind dem 45-Jährigen fremd.

"Also bei mir ist das so, ich bin immer sehr entspannt, weil ich so klar habe, was ich tue. Ich kann mich ganz auf mich verlassen, weil ich früh anfange, ne große Auswahl an Looks präsentiere und mir dann selber die Möglichkeit gebe, nicht mit jedem Teil arbeiten zu müssen."

Würden sich hinter den Kulissen seiner Shows nicht jedes Mal zahlreiche Journalisten, Kameraleute und Assistenten um ihn scharen, müsste man Guido Maria Kretschmer vermutlich suchen. Er hält sich immer im Hintergrund, wird selten hektisch oder laut, trägt in der Öffentlichkeit am liebsten schlichte, schwarze Anzüge und weiße Hemden – auch von der Stange.

"Ich bin mit mir nicht so eitel. Bei mir steht die, das Modell im Vordergrund"

Woher seine Leidenschaft für Mode und Stoffe rührt, kann Guido Maria Kretschmer nicht erklären. Versucht er es doch, kommt er immer wieder auf seine Kindheit zu sprechen. Geboren in Münster, wuchs er wohlbehütet mit vier Geschwistern in einem kleinen nordrhein-westfälischen Ort bei Wahrendorf auf.

"Also ich glaube, dass ich schon so eine Textilsehnsucht habe, das habe ich schon. Seitdem ich Kind bin, ist das so gewesen. Ich hab immer an Textil gedacht, ich träume textil. Das einzige was mich zur Ruhe bringt. Wenn andere Leute Rescue-Drops oder Blütentropfen nehmen, fass ich so in Leinen und Wolle und ich bin schlagartig ruhig."

Es soll kein einziges Kinderfoto geben, auf dem Guido Maria Kretschmer nicht von Textilien umgeben ist. Immer zieht er gerade eine Gardine glatt oder hat ein Kissen auf dem Schoß. Manchmal, so sagt er, schläft er heute noch mit einem Stoff zwischen seinen Fingern ein. Seine Eltern ließen ihn machen, boten ihm trotzdem alternative Beschäftigungen an – vergebens.

"Als Kind sollte ich Flöte spielen lernen. Nach den Sommerferien. Meine Mutter hat mir eine Flöte gekauft. Und ich hatte sechs Wochen Zeit – das war wirklich fatal – ich hatte sechs Wochen Zeit, dieses Flötentäschchen, ich hab mich so darauf gefreut, da hab ich erst, dann hab ich neue Taschen genäht, und irgendwann habe ich die Flöte so bearbeitet, hatte die beklebt mit Steinen und bemalt und die Tasche, und als ich dann reingekommen bin, ist die ausgeflippt."

Trotzdem vergehen noch einige Jahre, bis Guido Maria Kretschmer beschließt, professionell in die Modebranche einzusteigen. Erstmal beginnt er ein Medizinstudium – um anderen Menschen zu helfen. Bis er bei einem Praktikum im Krankenhaus im eigens umgestalteten Arztkittel erscheint.
"Ich hab so´n Doppelreihigen gemacht mit neuen Knöpfen. Ich hatte ja den ganzen Sommer Zeit, mich auf das Praktikum vorzubereiten, und hab mir dann so ne Hose genäht und einen Stehkragen gemacht, aber das fanden die nicht so toll."

Der damals 20-Jährige legt den Kittel ab und damit auch seinen Berufswunsch. Es zieht ihn nach Frankreich und Spanien, wo er Modedesign studierte. An einem Marktstand auf Ibiza verkauft er seine ersten selbst genähten Klamotten und trifft auf seinen ersten Kunden: Udo Lindenberg.

"Der ist da unterwegs gewesen, hat Nina Hagen da besucht und ist vorbeigegangen und sieht ne Jacke von mir, ist stehen geblieben und hat gesagt: Das ist super, kannst du mir mal fünf so ´ne Dinger machen. Und dann war´s das. Dann hab ich halt fünf Jacken gemacht, hab ihm die nach Ende des Sommers gebracht, da war der ganz happy, und so ist das angefangen."

Wer damals vor ihm stand, war Guido Maria Kretschmer gar nicht klar. Auch das üppige Gehalt von 5000 D-Mark macht ihn nicht stutzig. Stolz kauft sich der Designer eine Nähmaschine. Als er 1987 dann sein eigenes Unternehmen gründet, spezialisiert er sich auf funktionale Arbeitskleidung. Unternehmen wie TUI, die Deutsche Telekom und Hapag Lloyd lassen sich heute noch von Guido Maria Kretschmer die Personaluniformen entwerfen. Zur Haute-Couture kommt er erst später. Das Label "Guido Maria Couture" läuft seit der Gründung 2004 äußerst erfolgreich.

"Ich hab sicher gemerkt, dass ich auch was erreicht habe, aber ich habe nicht so die Zeit, darüber zu reflektieren. Sondern ich bin immer so im morgen. Ich halte mich nicht auf mit gestern. Und Erfolg ist immer etwas mit gestern. Und wenn du heute wieder bist, musst du dich neu beweisen. Deswegen bin ich da auch sehr sparsam mit mir selbst. Also ich belohn mich nicht so mit dem Gefühl ich bin erfolgreich oder so."

Guido Maria Kretschmer trägt den Erfolg nicht vor sich her, sondern lässt ihn jeden Tag hinter sich; er trägt die Mode nicht an seinem Körper, sondern in seinem Herzen. Egal, was er tut, sagt er, es geht immer um den Menschen, das Innere, um Tiefe und Eleganz. Denn die, findet er, ist der letzte Luxus unserer Tage.