Heinrich Böll

Auf der Suche nach einer bewohnbaren Sprache

Der Schriftsteller Heinrich Böll in seiner Bibliothek, aufgenommen am 07.12.1970.
Heinrich Böll begann direkt nach seiner Rückkehr aus dem Krieg zu schreiben. Es war die Suche nach einem Neuanfang. © dpa
Von Terry Albrecht · 10.12.2022
Kein Schriftsteller lag so im Widerstreit mit der Bundesrepublik wie ihr erster Literaturnobelpreisträger: Heinrich Böll rieb sich an seinem Land. Deutschlands restaurative Strukturen beschrieb er immer wieder in Romanen wie "Gruppenbild mit Dame".
Heinrich Böll hat in Köln seine literarische Prägung erfahren, seine ersten Schreibversuche gehen auf die "Straßenschule" in Köln zurück, gefolgt von einem langjährigen Soldatenleben, in dem er den Krieg hassen lernte. Als er darüber schrieb, wollte aber Ende der 40er-Jahre keiner etwas davon wissen.
Viele seiner frühen Erzählungen sind erst kurz vor seinem Tod 1985 oder postum veröffentlicht worden, wie der Roman "Der Engel schwieg". Nicht nur in diesem Roman hat der gläubige Katholik Böll die Institution Kirche angegriffen und ihre Verstrickung in das Naziregime benannt. Böll wurde zu dem literarischen Gewissen der Bundesrepublik.

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Kindheit und Jugend
"Mein Vater liebte Umzüge und zog sogar gern innerhalb der Wohnung um, das Schlafzimmer der Eltern wurde also woanders hin verlegt und das andere Zimmer dann dahin und das andere wieder dorthin." (aus "Drei Tage im März" (1975))
Der Vater, Viktor Böll, kam aus einer wohlhabenden Schreinerfamilie in Essen. Er zog nach Köln um, und strebte hier vor allem nach wirtschaftlichem Aufstieg und bürgerlicher Anerkennung. Das gelang zum Teil. Er konnte drei Häuser bauen, damals üblich als Altersvorsorge, verlor aber auch Vermögen in der Weltwirtschaftskrise 1929. Zugleich spielte die Auseinandersetzung mit dem strengen katholischen Glauben, in dem noch die Eltern Heinrich Bölls erzogen wurden, eine wichtige Rolle. Heinrich Bölls erster Biograf, Heinrich Vormweg:
"In Heinrich Bölls Familie hatte die in stolzer Glaubensgewissheit so skeptische Sicht auf die Kirche und viele ihrer im Zölibat lebenden Diener auch mit den Erfahrungen zu tun, die der Vater Viktor Böll als kleiner mittelständischer Unternehmer mit ihnen gemacht hatte. Die Kirche war lange der wichtigste Auftraggeber des Bildhauers und Schreiners, der viel Kirchengestühl für sie hergestellt und Kirchkunst für sie restauriert hatte. Er hatte Gelegenheiten in Menge gehabt, mitzubekommen, was das Zölibat praktisch bedeutete - es drängte eben auch zu sexuellem Missbrauch."
Heinrich Böll war Schüler des staatlich humanistischen Kaiser-Wilhelm-Gymnasium. 1938 schließen die Nationalsozialisten die Schule. Allein schon, um nicht zu schnell von einer der gehassten nationalsozialistischen Parteigruppen vereinnahmt zu werden, blieb Böll auf der Schule bis zum Abitur.
Während der letzten Schuljahre unternahm Böll auch erste Schreibversuche. Viele dieser Texte wurden zum ersten Mal in der Kölner Werkausgabe veröffentlicht. So auch das Gedicht "Spaziergang am Rhein" von 1937, das schon Themen der modernen Stadtentwicklung kritisch aufgreift, aber auch Bölls Hingezogensein zum Rhein.
"Fünf Minuten hinter dem höllischen Lärm
gräßlichster Disharmonien,
hinter den Wohnungen
der Hunderttausende,
die nicht mehr wissen, was sie tun,
liegt die Stille,
kein Stern am Himmel.
Die Nacht ist nicht dunkelblau wie schwarzer Samt
sie ist wie ein dünner schwärzlicher Brei
über alle Dinge gegossen
aber hier ist Ruhe
fünf Minuten nur hinter der Hölle...
Nur vereinzelt dringt das vorlaute Bellen
eines der Götter unserer Zeit
eines "Automobilisten"
bis hierher.
Sonst ist Stille...
erst glaubt man, die Ohren müssten zerbersten, so ungewohnt ist ihnen der Friede geworden"
Soldat im Zweiten Weltkrieg
Heinrich Böll ist zunächst in Osnabrück stationiert. Er wird zum Infanteristen ausgebildet und kommt noch nicht an die Front. Seine ersten Briefe richten sich ausschließlich an seine Familie. 1940 lernt er Annemarie Cech, eine Freundin seiner Schwester, kennen, seine künftige Frau. Seit dieser Zeit adressiert er die meisten Briefe an sie. 60 Jahre später wird Annemarie Böll sie veröffentlichen. Im Vorwort notiert sie:
"Obwohl wir uns während seiner Zeit beim Ersatzbataillon oft sahen, schrieb Heinrich Böll mir auch damals wie später aus Frankreich fast täglich mehrere Briefe, von der Ostfront schrieb er so oft wie möglich. Das Schreiben wurde für ihn lebenswichtig. Er war früh überzeugt, dass es sein Beruf sein würde."
Obwohl die Familie Böll keine Anhänger der Nationalsozialisten waren und auch keinen Krieg wollte, hat Heinrich Böll den Krieg nicht von Anfang an abgelehnt, sagt Ralf Schnell. Böll war aber ohne militärischen Ehrgeiz und fühlte sich den einfachen Soldaten wie er es als Infanterist war, näher als den Offizieren, zu denen er auch hätte gehören können.
"22.11.43 Sonntag
Morgens Friede und Sonnenschein nachmittags heftiges Feuer
Ich habe beide Hände verbunden, völlig hilflos und am rechten Enkel, ein daumendickes Loch. Meine Strümpfe, der Geruch von 14 Tage altem Blut." (Zitate Böll Kriegstagebücher)
Kriegsbrief, Ungarn 9. Juni 1944: "Heute morgen beim Verbinden sah ich zum ersten mal meine Wunde … sie sieht doch erschreckend aus; die größte ist genauso groß wie ein Lindenblatt, dort, wo der größte Splitter hineingegangen ist … man erschrickt doch, wenn man sich so zerstört sieht; der Krieg ist doch Irrsinn!"
Bölls Kriegsbriefe und das Kriegstagebuch gehören zu den eindringlichsten Dokumenten über die Sinnlosigkeit des Krieges. Sie sind ein literarisches Vermächtnis und zugleich ein Schlüssel für das Verständnis des Schriftstellers Heinrich Böll, der er nach 1945 werden sollte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Ein Mann schaut am 29.08.2017 in Köln (Nordrhein-Westfalen) auf eine Fotografie von Heinz Held aus dem Jahr 1953, die Heinrich Böll zeigt., Sie ist in der Ausstellung  "Die humane Kamera - Heinrich Böll und die Fotografie" im Museum Ludwig zum 100. Geburtstag des Nobelpreisträgers zu sehen.
Ausstellung "Die humane Kamera - Heinrich Böll und die Fotografie" im Museum Ludwig in Köln - zu sehen ist Heinrich Böll auf einer Fotografie aus dem Jahr 1953.© picture alliance / dpa / Oliver Berg
Direkt nach seiner Rückkehr aus dem Krieg, hat Heinrich Böll angefangen zu schreiben. Es war die Suche nach einem Neuanfang, auch sprachlich. Zugleich galt es das Erlebte zu verarbeiten. Sein erster Roman entsteht: "Der Engel schwieg" - erscheinen wird er erst postum im Jahre 1992. Das Buch beschreibt die Situation eines Kriegsheimkehrers in seiner zerstörten Stadt, wo die Aufgabe auf ihn wartet, der Frau seines Kameraden von dessen Tod zu berichten. Doch als der Middelhauve Verlag das Romanmanuskript ablehnt und auch andere Veröffentlichungen, in denen Böll seine Kriegserfahrungen mit einfließen lässt, nicht erscheinen können, konstatiert er:
"Keine Sau will etwas vom Krieg lesen oder hören, und ohne jedes Echo arbeiten, das macht dich verrückt."
Auch der Roman "Kreuz ohne Liebe", der ebenfalls den Krieg zum Thema hat, konnte seinerzeit nicht veröffentlicht werden und blieb Fragment. Böll hat darauf hin die Romankonvolute zerschnitten in kleine Erzählungen und diese einzeln an Zeitschriften versandt. Die Kurzgeschichte wird zur populären Prosaform, wie Bölls Erzählungsband "Wanderer, kommst du nach Spa" (1950) zeigt. Thematisch erzählen auch diese Texte vom Krieg, zugleich entfernen sie sich aber von der unmittelbaren Schilderung der Kriegsereignisse und wenden sich dem Leben danach, in den Trümmern, zu. In dem Essay "Bekenntnis zur Trümmerliteratur" hat Böll diese neue Erzählform und ihre Inhalte zusammengefasst.
"Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation nach 1945 hat man als Trümmerliteratur bezeichnet, man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: Tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder. Und sie waren scharfäugig: sie sahen. Sie lebten keineswegs in völligem Frieden, ihre Umgebung, ihr Befinden, nichts an ihnen und um sie herum war idyllisch, und wir als Schreibende fühlten uns ihnen so nahe, dass wir uns mit ihnen identifizierten." (Bekenntnis zur Trümmerliteratur 1952)
In Kurzgeschichten wie "Über die Brücke" von 1950 oder "Die Dachrinne" von 1951, gelingt es Böll in erzählerischen Momentaufnahmen die Stimmung der Nachkriegszeit festzuhalten. Zugleich gelingt es ihm aber 1951 im Kurzroman "Wo warst du Adam?" doch, Kriegserfahrungen zu thematisieren. Eine der erschütterndsten Szenen handelt vom Kriegsende. Ein Soldat kehrt am Tag der Kapitulation in sein Elternhaus zurück:
"Jetzt war es nicht mehr weit bis zu Hause – links lag Heusers Haus, rechts Hoppenraths, und er brauchte nur noch durch diese schmale Gasse zu gehen, dann links ein Stück die Hauptstraße hinunter. Heusers hatten das weiße Zeug an ihren Bäumen. Er lächelte. Er hörte drüben den Abschuss genau und warf sich hin – sofort –, und er versuchte weiterzulächeln, erschrak aber doch, als die Granate in Hoppenraths Garten schlug.Er kroch schnell ans Haus heran, hörte den Abschuss der siebenten Granate und schrie schon, bevor sie einschlug, er schrie sehr laut, einige Sekunden lang, und er wusste plötzlich, dass Sterben nicht das einfachste war – er schrie laut, bis die Granate ihn traf, und er rollte im Tod auf die Schwelle des Hauses. Die Fahnenstange war zerbrochen, und das weiße Tuch fiel über ihn."
Neben "Der Zug war pünktlich (1949), und "Haus ohne Hüter" (1954), gehört auch "Wo warst du Adam" zu den Texten, in denen Heinrich Böll das Judentum und den Holocaust thematisiert. An einer anderen Stelle des Romans "Wo warst du Adam" zeichnet er das Psychogramm eines Täters, eines SS-Obersturmführers, und seines Opfers, einer 23-jährigen Jüdin, deren Ermordung durch den deutschen Offizier den Genozid an den Juden auf exemplarische Weise zeigt. In der frühen Erzählung "Todesursache Hakennase" von 1947 beschreibt Böll einen Massenmord an den Juden und anderen Minderheiten in der Nähe von Kiew.
Böll und die Adenauer-Zeit
Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich 1952 während der Tagung der Gruppe 47 (v.lks). 
Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich 1952 während der Tagung der Gruppe 47 (v.lks). © picture alliance / dpa
Als Schriftsteller hat Böll 1951 seinen Durchbruch. Ihm wird der Erste Preis beim ersten Treffen der "Gruppe 47" zugesprochen. Böll erhielt die Auszeichnung für die Erzählung "Die Schwarzen Schafe" (1951), eine Nachkriegssatire, die um das Verhältnis von Armut und Reichtum kreist und Illusionen und die Kunst des Lebens. Der Onkel, das schwarze Schaf der Familie, stirbt. Er hat sich bei allen Anlässen ständig Geld geliehen und es fast nie zurückgegeben. Nach seinem Tod findet sich eine Liste mit allen Gläubigern und der Verfügung, dass sein Neffe, der Ich-Erzähler, sein Nachfolger werden soll.
"Offenbar bin ich ausersehen, dafür zu sorgen, dass die Kette der schwarzen Schafe in meiner Generation nicht unterbrochen wird. Einer muss es sein, und ich bin es. Niemand hätte es je von mir gedacht, aber es ist nichts daran zu ändern: ich bin es."
Zwar reichte dieser erste Erfolg als Schriftsteller noch nicht aus, um die Familie zu ernähren, aber Böll fand im Hörfunk einen wichtigen Arbeitgeber. Böll hat vor allem Hörspiele und Features für den Hörfunk geschrieben, aber später auch im Rahmen von Schulfunkprogrammen mit Schülern Radio gemacht.
"(Der) Hörfunk wurde zum Mäzen der jungen deutschen Literatur."
Das Einkommen aus diesen Rundfunkaufträgen ermöglichte nicht nur ihm, seine literarischen Arbeiten voran zu treiben und sich zu einem starken Intellektuellen und Kritiker einer zunehmend restaurative Züge tragenden Bundesrepublik zu entwickeln. Repräsentant dieser Bundesrepublik und damit Bölls Widersacher ist ein anderer Kölner Katholik: Konrad Adenauer.
"Der Begriff Restauration steht ja immer wieder in der Diskussion, er wird zum Teil abgelehnt, auch aus der Wissenschaft, weil man sagt, es hat ja in dem Sinne gar keine Restauration gegeben. Wohl aber kann man sagen, haben Autoren wie Heinrich Böll, übrigens auch Wolfgang Koeppen oder Arno Schmidt ihre Zeit als eine Restaurationsphase empfunden, nicht im Sinne, dass der Nationalsozialismus wieder restauriert werde, das war nicht der Punkt. Für Böll war aber deutlich, dass die alten Bürgerlichkeitsmuster wieder auflebten, die bürgerliche Behäbigkeit und die Ignoranz gegenüber den vergangenen Entwicklungsphasen der jungen Bundesrepublik Deutschland, der Vorgeschichte also." (Ralf Schnell)

Über Ralf Schnell:
Der Literaturwissenschaftler Ralf Schnell ist Mitherausgeber der Werke Bölls, der sogenannten Kölner Ausgabe. Von 2006 bis 2009 war er Rektor der Universität Siegen.

Im Rahmen der Frankfurter Poetik-Vorlesungen formuliert Böll 1964 seine Aufforderung, sich von der Sprache der Nationalsozialisten abzuwenden und den auf reine Zweckmäßigkeit ausgerichteten sogenannten Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg zu stoppen.
Der Autor Böll möchte eine offenere Gesellschaft, in der auch die damals stark wirkenden religiösen Zwänge gelockert werden sollen. Zwänge, von denen auch Böll sich nicht frei machen konnte, hebt der Kölner Publizist Martin Stankowski hervor:
"Er hat den Widerspruch, der darin bestand, dass er in den 50er-Jahren, in dem geschlossenen katholischen Milieu, nicht katholisch sein konnte und gleichzeitig gegen Adenauer. Und da gibt es einen für mich prägenden Brief, der berühmte "Brief an einen jungen Katholiken", 1957. In dem er genau diesen Widerspruch beschreibt. Hinzu kommt ja in seinen Romanen und auch in den Briefen, die er an seine Frau geschrieben hat, ja ein sehr verklemmtes Verhältnis zur Sexualität. Die Frauenfiguren und immer wenn es um Sex geht, ist das immer eine sehr schräge Geschichte. Zum Beispiel der Clown da in Bonn, mit seiner Marie zusammenlebt und sich gegenseitig vormachen, ist es nun Liebe oder ist es die reine Körperlichkeit. Es gibt eine negative Konnotation, die mit dem Soldatentum zusammenhängt. Er hat so schlechte widerwärtige Erfahrungen gemacht, weil die ständig in Bordelle gegangen sind. Das wird so oft thematisiert, dass die Prägung durch das katholische Milieu geradezu körperfeindlich war. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Sexualität und Körperlichkeit waren tabuisiert."
Humanisierung der Gesellschaft, Kirche – Kriegserfahrung und Verklemmtheit. In den 60er-Jahren wird der öffentlich auftretende Intellektuelle Heinrich Böll zu einem Streiter für die "Freiheit der Kunst", die sich im Clown nicht behaupten kann.
"Ich hab mit ihm einmal persönlich zu tun gehabt, es gab in den 70er-Jahren die erste Alternativzeitung in Köln, das Kölner Volksblatt, die ich mit organisiert habe. Wir haben damals eine Kampagne gegen einen ungemein rassistischen, problematischen Wagen im Rosenmontagszug polemisiert. Da wurden Arbeitslose und Gastarbeiter beleidigt. Und wir haben eine Kampagne dagegen gemacht und da hat Böll uns einen Brief geschrieben und gesagt, er unterstützt uns da vollständig. Das ist auch ein durchgängiges Motiv in Bölls Leben und Werk sich mit den Herausgefallenen, den Herausgestoßenen zu beschäftigen und denen gegenüber solidarisch zu sein. Und es gab ein Zweites, eine sehr aktive politische Gruppe, SSK heißen die, Sozialistische Selbsthilfe Köln, seit über 50 Jahren, seit der APO-Zeit eigentlich. Und diese Gruppe hatte lange Schwierigkeiten mit der Stadt natürlich, weil die sich um Obdachlose, Trebegänger und weggelaufene Jugendliche gekümmert haben, haben die in Häuser geholt, haben Häuser besetzt und haben das Leben wieder etwas erträglicher gemacht. Und als die ganz am Ende waren, hat Böll ein altes Haus in Ehrenfeld gekauft, damit sie eine sichere Bliebe haben." (Martin Stankowski)
Heinrich Böll und Köln
Köln, das war Bölls Stadt, die Stadt an der er sich rieb und deren Veränderung er genau beobachtete. Da war das erste Köln, das seiner Kindheit, das Köln vor dem Krieg. Dann das zweite Köln, die zerstörte Stadt, der er noch in ihrer Stille und Ruhe in den Trümmern etwas abgewinnen konnte. Doch dem folgenden Prozess der Entwicklung hin zu einer autogerechten Stadt lehnte Böll ab.
"Er hat die romanischen Kirchen geliebt, Maria im Kapitol, die Severins Kirche, die auch literarisch vorkommt. Er hat einen Weg beschrieben, eine kleine Gasse um die Kirche herum. Eine charmante Ecke. Es gibt ja wenig charmante Ecken in Köln. Köln ist ja eigentlich eine hässliche Stadt, aber hat charmante Ecken. Die hat Böll sehr genau gekannt." (Stankowski)
Die kritische Haltung, die Böll gegenüber seiner Geburtsstadt einnahm, führte auch dazu, dass ihm 1983 beinahe die Kölner "Ehrenbürgerwürde" nicht zugesprochen wurde. Einige Politiker im Stadtrat waren der Auffassung, Böll habe nichts für die Stadt geleistet. Mit Mühe konnte der damalige Oberbürgermeister den Nobelpreisträger Böll überreden die Ehrenbürgerwürde doch anzunehmen.
Bewohnbare Sprache und bewohnbares Land
Der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll (r) wird am 19.10.1972 von Kronprinz Carl Gustaf in Stockholm mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Heinrich Böll (r) wird am 19.10.1972 von Kronprinz Carl Gustaf in Stockholm mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.© dpa
"Der Weg hierhin war ein weiter Weg für mich, der ich, wie viele Millionen aus dem Krieg heimkehrte und nicht viel mehr besaß als die Hände in der Tasche, unterschieden von den anderen nur durch die Leidenschaft, schreiben und wieder schreiben zu wollen. Das Schreiben hat mich hierhergebracht. Gestatten Sie mir, die Tatsache, dass ich hier stehe, für nicht so ganz wahr zu halten, wenn ich zurückblicke auf den jungen Mann, der da nach langer Vertreibung und langem Umhergetriebensein in eine vertriebene Heimat zurückkehrte; nicht nur dem Tod, auch der Todessehnsucht entronnen; befreit, überlebend; Frieden – ich bin 1917 geboren – nur ein Wort, weder Gegenstand der Erinnerung noch Zustand; Republik kein Fremdwort, nur zerbrochene Erinnerung." (Auszug aus der Rede zum Literaturnobelpreis)
Für den Roman "Gruppenbild mit Dame" erhält Heinrich Böll 1972 den Literaturnobelpreis. Böll reiste mit einem geliehenen Frack zur Nobelpreisvergabe. Vom Preisgeld kaufte er die Wohnung in der Hülchrather Straße, in der er seit drei Jahren lebte, und die im Grundriss der im Roman "Gruppenbild mit Dame" beschriebenen entspricht.
"Es gehe nicht gegen ausländische Arbeiter, man hege keine Rassenvorurteile, nur müsse man konsequent sein, und wenn Tante Leni sich bereit erkläre, marktgerechte Mieten zu nehmen, ließe sich sogar darüber reden, ob man nicht das ganze Haus für ausländische Arbeiter freigebe, es bettenweise, zimmerweise vermiete, Tante Leni zur Verwalterin bestimme und ihr sogar freie Wohnung und eine monatliche Bargeldentschädigung gewähre; doch sie nehme ja was nun tatsächlich Wahnsinn sei und sogar Erkenntnissen der sozialistischen ökonomischen Lehre widerspreche –, sie nehme ja als Miete genauso viel, wie sie selbst zahle; nur um ihretwillen habe man noch den Quadratmeterpreis auf 2,50 gehalten und nicht, damit andere davon profitierten; so zahle die portugiesische Familie für 50 Quadratmeter 125 ,– DM, zusätzlich 13 ,- DM für Bad und Küchenbenutzung, die 3 Türken ("Von denen der eine ja nun dauernd bei ihr pennt, so dass eigentlich nur zwei das Zimmer bewohnen.") für fünfunddreißig Quadratmeter 87,50 DM, die beiden Helzens wiederum für 50 qm 125 ,– DM, plus jeweils dreizehn, "und dabei ist sie so irrsinnig, die Küchen und Badanteile für sich doppelt zu berechnen, weil sie Lev, der ja nun vorübergehend kostenlos untergebracht ist, das Zimmer freihält". Und was das Fass zum Überlaufen bringe, sei die Tatsache, dass sie Leermiete für möblierte Wohnungen berechne; das sei nun nicht etwa etwas so Harmloses wie ein anarchistischkommunistisches Experiment, das sei Marktzersetzung; man könne aus der Wohnung, ohne allzu unfair zu sein, gut und gerne pro Zimmer mit Bad- und Küchenbenutzung 300 ,– bis 400 ,– Mark herausschlagen. Etc. Etc."
Heinrich Böll war auch ein sehr genauer, exakter Planer seiner Romane. Für "Gruppenbild mit Dame" hat er eine grafische Skizze angefertigt, die wie der Bauplan eines Architekten aussieht. Auf einer großen roten Fläche, die wie ein Trichter auf eine Tülle zuläuft, zeichnet Böll die Entwicklung zum Plot vor.
"Eigentlich für alle Romane gibt es das. Er hat Kapitel aufgeteilt und welche Personen wo vorkommt, die Motive, Hintergründe, Alter der Personen. Grundriss nannte er das auch. Verschiedene Farben für verschiedene Personen." (René Böll)

Über René Böll:
René Böll ist der dritte Sohn von Heinrich Böll. Er ist Maler. Er ist auch Mitbegründer der Heinrich-Böll-Stiftung und kümmert sich heute um den privaten Nachlass seines Vaters.

Bölls soziales und politisches Engagement
Der russische Germanist und Schriftsteller Lew Sinowjewitsch Kopelew.
Der russische Schriftsteller Lew Sinowjewitsch Kopelew.© dpa/Horst Galuschka
Böll suchte den Austausch mit DDR-Kollegen und reiste vor allem viel in das fernere Osteuropa, Polen, die Sowjetunion und die Tschechoslowakei, wo seine Frau geboren wurde. 1968 reiste er auf Einladung des PEN und Alexander Dubceks nach Prag, wo gerade der Prager Frühling ausgebrochen war. Auf dem Wenzels Platz musste er miterleben, wie die sowjetischen Panzer die friedliche Revolution niederwalzten.
- "Es gibt zwei Dinge, einmal sich für die Ausgestoßenen zu engagieren und gegen alle Lagerdenkerei Unabhängigkeit im Kopf zu bewahren. Wir haben ja in der Linken früher das Problem gehabt, dass Dinge nicht beurteilt wurden nach wahr oder unwahr, nach ethisch oder unethisch, sondern nach Lager und das war dem Böll völlig fremd." (Stankowski)
- "Heinrich Böll galt ja in der Bundesrepublik Deutschland, zumindest den konservativen seiner Kritiker immer als jemand, der links stehe, er wurde als Kommunist verteufelt, als Sozialist hingestellt und dergleichen mehr. Aber diese Vorwürfe gegenüber Böll sind unhaltbar, wenn man sich einmal ansieht, wie genau Böll zu unterscheiden verstand zwischen den östlichen Systemen des Staatssozialismus und den Intellektuellen dort, den Dissidenten etwa. Böll hat sich nie in seinem gesamten Engagement, nie festlegen lassen durch etwa eine Nähe, eine Art falscher Solidarität zu den Systemen." (Schnell)
Mit Lew Kopelew verband Heinrich Böll eine besondere, langjährige Freundschaft. Nachdem es Böll schaffte, dass der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn aus der Sowjetunion ausreisen und zunächst bei ihm unterkommen konnte, gelang ihm das auch mit Lew Kopelew und dessen Frau Raja.
Zusätzlich engagierte sich Böll immer auch sozial.
"Im Zug nach Köln dachte ich nur noch an diese armen 'boat people' und schrieb schließlich einen Brief an den Einzigen, der mir in Deutschland einfiel und den ich um Unterstützung in der deutschen Öffentlichkeit bitten musste, Heinrich Böll. Zwei Tage später, am 4. Februar 1979, rief Böll im Deutschlandfunk an. Er sagte einfach nur: Neudeck, Sie müssen das tun und ich bin dabei! Und er bat mich noch, diese Aktion ganz breit zu machen, damit keine Partei oder Kirche sich ihrer bemächtigen konnte." (Ruppert Neudeck)
Streit um ein Essay
Der Schriftsteller Heinrich Böll am 01.02.1973 bei einer Dichterlesung in Frankfurt am Main.
Heinrich Böll im Jahr 1973 bei einer Dichterlesung in Frankfurt.© dpa
Am 10. Januar 1972 erscheint im Spiegel Heinrich Bölls Essay "Soviel Liebe auf einmal. Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" Vermutlich hat keine Veröffentlichung eines deutschen Schriftstellers nach dem Zweiten Weltkrieg ein strittigeres Echo hervorgerufen als dieser Essay Bölls.
"Wo die Polizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist 'Bild' schon bedeutend weiter: Bild weiß. Dicke Überschrift auf der Titelseite der (Kölner) Ausgabe vom 23.12.71: "Baader-Meinhof-Gruppe mordet weiter"."
Der "Bild"-Artikel wusste aber nur von einem Verdacht zu berichten. Böll ist erzürnt über das Verhalten der Boulevardpresse im Umgang mit der Baader-Meinhof-Gruppe. Ihn stört die Vorverurteilung, die er als eine Beugung des Rechts in einer Demokratie bezeichnet. Denn, solange nicht das Gegenteil bewiesen sei, gelte die Unschuldsvermutung, auch bei möglichen Terroristen.
"In jeder Erscheinungsform von Rechtsstaat hat jeder Verdächtigte ein Recht, dass, wenn man schon einen bloßen Verdacht publizieren darf, betont wird, dass er nur verdächtigt wird."
Diese Forderung allein reichte schon aus, Böll in die Nähe der "Baader-Meinhof-Gruppe" und der "Rote-Armee-Fraktion" (RAF) zu rücken. Verstärkt wurde die auf den Spiegel-Essay folgende Kampagne aber vor allem durch die Wahl des Titels. "Soviel Liebe auf einmal" war mit dem Spiegel abgesprochen. Böll bat auch ausdrücklich nichts am Inhalt und dem Titel des Essays zu verändern. Der Spiegel hielt sich nicht daran und fügte den Titel "Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" zudem noch unter Weglassen des Nachnamens Meinhof hinzu, ohne Böll zu informieren."
"Ein Titel, der eine gewisse Nähe des Autors Heinrich Böll zu Ulrike Meinhof dadurch nahelegte, dass der Nachname Meinhof fallengelassen wurde." (Schnell)
Heinrich Böll verteidigte auch später diesen Essay. Er sah keinen Grund sich zu distanzieren, obwohl er sich massiven Anfeindungen ausgesetzt sah.
"Der Artikel war polemisch, er hatte seine Zeit, entsprach ihr und der Stimmung, die damals herrschte. Er war polemisch, aber nicht verleumderisch; er entsprach dem, was ich mir unter Meinungsfreiheit vorstelle; was er außerdem war: er war beleidigend, beleidigend für Herrn Springer."
Die Folge sind Bespitzelungen und sogar Hausdurchsuchungen bei der Familie Bölls. Auf die Verfolgung reagiert Böll 1974 mit dem Kolportageroman "Die verlorene Ehre der Katharina Blum". Katharina Blum wird von der Polizei drangsaliert, weil sie einen angeblichen Terroristen schützen soll. Sie hat sich in diese Zufallsbekanntschaft verliebt und wird nun von der "Zeitung" als Terroristen-Hure beschimpft.
Volker Schlöndorff hat den Roman mit Angela Winkler als Katharina Blum eindringlich verfilmt. Böll hat für die Verfilmung noch eine Schlusssequenz geschrieben, die im Roman nicht enthalten ist. Sie zeigt die Beerdigung des Reporters Tötges und die dort gehaltene Grabrede. Sie ist zugleich Ausdruck einer der wichtigsten Seiten Bölls, der keine politische Auseinandersetzung scheute, aber auch einen Humor hatte, mit dem er dieser eine ganz eigene Schärfe verleihen konnte.
"Die Schüsse, die Werner Tötges tödlich getroffen haben, haben nicht nur ihn getroffen, sie galten der Pressefreiheit, einem der kostbarsten Güter unserer jungen Demokratie. Und durch diese Schüsse sind auch wir, die wir trauern und entsetzt stehen, nicht nur betroffen, sondern getroffen. Wer spürt nicht die Wunde, wer spürt nicht den Schmerz, der weit über das Persönliche hinaus geht? Wer spürt nicht den Atem des Terrors und die Wildheit der Anarchie? Wer spürt nicht die Gewalt, mit der hier an der freiheitlich demokratischen Grundordnung gerüttelt wurde, die uns allen so am Herzen liegt. Und wieder einmal gilt, wehret den Anfängen! Seit wachsam! Denn mit der Pressefreiheit steht und fällt alles. Wohlstand, sozialer Fortschritt, Demokratie Pluralismus, Meinungsvielfalt. Und wer die Zeitung angreift, greift uns alle an."
Abschiedsgedicht
Rene Böll, Sohn von Heinrich Böll (1917-1985), zeigt am Freitag (13.02.2009) im Historischen Archiv der Stadt Köln ein Familienbild aus dem Jahr 1958, aufgenommen in Irland. 
Heinrich Böll und Familie 1958 in Irland (Ausschnitt aus einem Familienbild)© dpa/ lnw/ Rolf Vennenbernd
Zwei Monate vor seinem Tod schrieb Heinrich Böll seiner Enkelin ein Gedicht in ihr Poesiealbum. Es ist ein Vermächtnis und zugleich auch ein Versprechen für alle, die sich mit der Literatur und dem Menschen Heinrich Böll beschäftigen.
"Wir kommen weit her
Liebes Kind
Und müssen weit gehen
Keine Angst
Alle sind bei Dir
Die vor Dir waren
Deine Mutter, Dein Vater
Und alle, die vor ihnen waren
Weit weit zurück
Alle sind bei Dir
Keine Angst
Wir kommen weit her
Und müssen weit gehen
Liebes Kind
Dein Großvater
8.Mai 1985"
"Ich habe oft gehört im Blick auf die gegenwärtigen Weltläufe und Zeitläufte, was würde ein Heinrich Böll zu diesem oder zu jenem Problem sagen, wie der Flüchtlinge, der Migration etwa, was würde ein Heinrich Böll dazu sagen." (Schnell)

Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Terry Albrecht, Regie: Sabine Fringes, Sprecher: Hartmut Stanke, Valentin Stroh, Sylvia Systermans, Jürgen Albrecht, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Webproduktion: Jörg Stroisch

Über den Autor:
Der Literaturwissenschaftler Terry Albrecht arbeitet als Journalist, Autor und Moderator, unter anderem für den WDR und den Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur. Für ein WDR-5-Feature über Heinrich Böll erhielt Albrecht 2012 den Kölner Medienpreis.

Wiederholung: Die Sendung wurde erstmals am 16. 12. 2017 ausgestrahlt.

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