Die Krise der Demokratie

Rezensiert von Paul Stänner · 09.06.2013
Nach Griechenland war jüngst auch Portugal dran: Um Hilfsgelder aus dem Euro-Rettungsfonds zu bekommen, mussten Gehälter gekürzt und Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen werden. Die Krise führt letztlich zu einer großen, undemokratischen Umverteilung, kritisiert der Soziologe Wolfgang Streeck.
Es ist das Jahr 2007. Ein Jahr noch bis zum Zusammenbruch der Lehman Brothers. Doch die Risiken des weltweiten Wirtschaftens werden schon sichtbar: Die amerikanische Immobilienblase ist aufgebläht, die deutsche IKB wankt schon, und die britische Northern Rock strauchelt. Und Alan Greenspan, Chef der amerikanischen Zentralbank, erklärt freudig das Machtgefälle zwischen Staat und Markt:

"Wir haben das Glück, dass die politischen Beschlüsse in den USA dank der Globalisierung größtenteils durch die weltweite Marktwirtschaft ersetzt wurden. Mit Ausnahme des Themas der nationalen Sicherheit spielt es kaum eine Rolle, wer der nächste Präsident wird. Die Welt wird durch Marktkräfte regiert."

In erstaunlicher Offenheit benennt Greenspan, der ja in finanziellen Fragen wissen dürfte, wovon er redet, dass die Vereinigten Staaten von Amerika in fast allen wesentlichen Sektoren der staatlichen Souveränität – Wirtschaft, Steuern, Finanzen, Wohlfahrt, Gesundheitssystem – nicht mehr handlungsfähig sind. Warum Alan Greenspan als Zentralbankchef dies als einen glücklichen Umstand ansieht, bleibt unverständlich. Wie es jedoch zu dieser Situation kommen konnte, hat Wolfgang Streeck in seinem Buch "Gekaufte Zeit" nachgezeichnet, seiner Druckfassung der Frankfurter Adorno-Vorlesung aus dem Jahr 2012. Seine Analysen skizzieren eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung…

"…deren Beginn ich auf das Ende der 1960er-Jahre datiere und die ich von heute aus gesehen als Prozess der Auflösung des Regimes des demokratischen Kapitalismus der Nachkriegszeit beschreibe."

Der drohende Verlust der demokratischen Institutionen
Wolfgang Streeck ist Soziologe und Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln und dort auch Professor an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Was ihn beschäftigt, ist der drohende Verlust der demokratischen Institutionen als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise, die uns seit Jahren umtreibt. Streeck beschreibt die lange Jahre gültige Formel im Nachkriegsdeutschland, dass beide Seiten – in der Diktion des Autors: Lohnabhängige und Gewinnabhängige - durch gutes Wirtschaftswachstum steigende Einkommen einfuhren. Dann brach dieser vage Konsens auf:

"Die weltweite Welle wilder Streiks 1968 und 1969 erschien den Arbeitgebern und manchen Regierungen des demokratischen Kapitalismus als Folge einer zu lang gewordenen Phase krisenfreien Wachstums und gesicherter Vollbeschäftigung und als Ausdruck zunehmender Maßlosigkeit auf Seiten einer durch Wohlstand und Wohlfahrtsstaat verwöhnten Arbeitnehmerschaft. Diese dagegen glaubte, lediglich auf dem bestanden zu haben, was sie als demokratisches Bürgerrecht auf regelmäßige Lohnsteigerungen und laufende Verbesserung ihrer sozialen Sicherheit wahrnahm."

In dieser Phase der Verteilungskämpfe entdeckte das Kapital seinen Vorteil gegenüber dem Staat und der Arbeitnehmerschaft – es konnte beiden sein "Vertrauen" entziehen und dorthin gehen, wo das Verlangen nach steigenden Renditen besser bedient wurde. Dem zurückgebliebenen Staat blieb nichts anderes übrig, als - verkürzt gesagt – die Verluste durch entgangene Steuereinnahmen zu ersetzen durch Schulden, die auf dem internationalen Markt aufgenommen wurden. Der Weg in den Schuldenstaat war eingeschlagen.

Folgen wir Wolfgang Streeck, dann wird in absehbarer Zeit nicht der Kapitalismus, sondern die Demokratie am Ende sein. Was für die, die nicht zu dem sprichwörtlichen einen Prozent der übermächtigen Geldgeber gehören, keine gute Botschaft ist. Man kann gegen ihn einwenden, dass er Staat und Politik als Gejagte darstellt, die gehetzt von zwei konkurrierenden Akteuren keine Chance haben, eigene Handlungsoptionen zu entwerfen, aber am Ende von Streecks Buch ist diese Botschaft leider sehr plausibel, was uns auch die Kanzlerin bestätigt:

"Wir leben ja in einer Demokratie und das ist eine parlamentarische Demokratie und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments und insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist."

Cover: "Gekaufte Zeit" von Wolfgang Streeck
Cover: "Gekaufte Zeit" von Wolfgang Streeck© Suhrkamp Verlag
Streeck fordert ein neues europäisches Währungssystem
Streeck argumentiert als Soziologe, ihn interessieren nicht die Finessen des Finanzmarktes, sondern ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft. Vor allem auf jene Teile der Gesellschaft, die nicht von der Finanz- und Wirtschaftskrise profitieren. Zwar hat Wolfgang Streeck zu Beginn seines Buches geschrieben, ein Analytiker sei nicht notwendig aufgefordert, seiner Diagnose auch den Heilplan beizulegen, macht aber dennoch am Schluss einen Vorschlag. Für manche Staaten wäre der Ausstieg aus dem Euro hilfreich, mit der Chance, dann die nationale Währung abzuwerten, um so politische und wirtschaftliche Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Streeck greift auf das 1944 in Bretton Woods beschlossene System fester Wechselkurse zurück, das bis 1970 Bestand hatte.

"Ein Vorbild für ein neues europäisches Währungssystem könnte das Währungsregime von Bretton Woods sein, das flexibel anpassbare Wechselkurse vorsah. Die dem System eigene Weisheit lag darin, dass es auf eine erzwungene Konvergenz der inneren Ordnung der Mitgliedsstaaten und ein 'Durchregieren' der stärkeren in die schwächeren Länder verzichtete."

Das wäre ein nationalstaatlich orientierter Vorschlag für Euro-Staaten, die zu ihrer eigenen Währung zurückkehren wollen, löst aber nicht das grundsätzliche Problem der Staatsfinanzen. Aber das ist nun wirklich nicht Streecks Aufgabe. Die Diskussion schreitet voran. Jürgen Habermas, dessen theoretische Vorarbeiten aus den 70er-Jahren Wolfgang Streecks Ausgangspunkt waren, hat geantwortet. Er findet seine damalige Krisentheorie von Streeck zu Recht kritisiert, folgt ihm auch in vielen Punkten seiner Analyse. Er folgt ihm aber nicht in der pessimistischen Schlussfolgerung, den Euro und den Euro-Raum eher rückzubauen als zu erweitern. Der euro-optimistische Habermas empfiehlt im Gegenteil den…

"…Druck einer vitalen Willensbildung einer über nationale Grenzen hinaus mobilisierbaren Bürgergesellschaft…"

…um die aus seiner Sicht verselbständigte Brüsseler Exekutive zu zwingen, ...

"…wild gewordene Märkte sozialverträglich zu reregulieren."

Der Kampf geht also weiter.

Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
271 Seiten, 24,95 Euro