Die Kreatur auf dem Teller. Tiere, Theologie und Ernährung

Rainer Hagencord und Michael Miersch im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 25.12.2010
Was man zu Weihnachten auftischt und ob es wieder der traditionelle Braten sein sollte, hat viele schon Tage, wenn nicht Wochen vor dem Fest beschäftigt. Über das menschliche Verhältnis zur tierischen Kreatur und die industrielle Produktion tierischen Lebens diskutiert Sigrid Brinkmann mit Rainer Hagencord und Michael Miersch.
Sigrid Brinkmann: Am Mikrofon begrüßt Sie Sigrid Brinkmann. Mit mir im Studio sind Rainer Hagencord und Michael Miersch. Rainer Hagencord hat nach der Priesterweihe Biologie studiert. In Münster leitet er das von ihm mitbegründete Institut für Theologische Zoologie. Michael Miersch ist Mitglied im publizistischen Netzwerk "Die Achse des Guten". Er hat zahlreiche Dokumentarfilme gedreht und Auszeichnungen erhalten für seine Sachbücher über Öko-Irrtümer, das "Mephistoprinzip" und die "Gefahren eines überzogenen Zukunftspessimismus".

Was man zu Weihnachten auftischt und ob es wieder der traditionelle Braten sein sollte, hat viele schon Tage, wenn nicht Wochen vor dem Fest beschäftigt. Vielleicht sind Menü-Entscheidungen in diesem Jahr aber auch leichter gefallen und es gibt weder Ente, Gans noch Rind, weil in den letzten Monaten sehr breit und kritisch über westliche Ernährungsgewohnheiten berichtet wurde – und in dem Zusammenhang natürlich auch über die industrielle Produktion tierischen Lebens. Die Grenzen, das wissen wir, werden immer weiter ausgedehnt.

Ein Buch haben wir alle drei in Händen gehabt. Es ist das Buch des amerikanischen Romanciers Jonathan Safran Foer und heißt "Tiere essen". Er wollte einfach verstehen, was Fleisch ist, und hat sich deshalb in Nutztierfabriken eingeschlichen und gigantisch große Schlachthäuser inspiziert. Sein Buch ist mit statistischen Zahlen angereichert. Es ist trotzdem ein sehr persönlich gehaltenes Buch und endet mit einem klaren Plädoyer für den Fleischverzicht.

Hedonisten fühlen sich von solchen Botschaften schnell provoziert. Mir ist besonders ein Artikel aufgefallen, der so ratlos wie apodiktisch festhält: "Freude am Leben haben und gut zur Kreatur sein, das geht einfach nicht zusammen". Über unser Verhältnis zur tierischen Kreatur wollen wir in dieser Lesart reden. Dass wir auf Kosten anderer leben, das ist ein Dilemma, dem kaum jemand entkommen kann. Das ist uns allen bewusst, aber, Herr Hagencord, das wäre meine Frage an Sie, ist eine Haltung, die Lebensfreude ausspielt gegen verantwortungsvollen Konsum, nicht letztlich der klare Ausdruck eines zerrütteten Verhältnisses von Mensch und Tier?

Rainer Hagencord: Um mit der Diagnose der Gegenwart anzufangen und von daher vielleicht erst mal einen Rekurs auch in die jüdisch-christliche Tradition – an dieser Stelle darf man das ja sagen – zu versuchen, zitiere ich gern Ruppert Sheldrake, der sagt, wir haben wirklich nur noch zwei Kategorien von Tieren. Die einen verwöhnen wir mit Haustierfutter und die anderen werden dazu verarbeitet. Das markiert ja auch das, was Jonathan Safran Foer beschreibt. Und was ist es denn dann um das Tier? Es ist weder ein besserer Mensch, noch eine bewegliche Sache. Und offenbar haben wir diese Frage, was ist das Tier, was ist das Wesen des Tieres, in den westlichen Industrienationen vergessen, abgehakt, als irrelevant abgetan.

Und dann kommt es zu diesen Zerrbildern und zu diesen Pathologien. Ich werde oft gefragt: Kann man denn von der Bibel her, vom Ersten, Zweiten Testament her den Vegetarismus ableiten? Und ich sage deutlich: nein. Wenn ich mal im Neuen Testament blättere, fällt mir sofort auch das sehr zentrale Gleichnis vom verlorenen Sohn ein. Und selbstverständlich wird da das Mastkalb auch geschlachtet. Aber dieser sehr unsentimentale Umgang mit dem Tier innerhalb einer agrarischen Kultur ist eine Facette von sehr vielen Spielarten, Lesarten einer wach gehaltenen Frage: Was ist das Wesen des Tieres? Und dann bin ich eben bei Zuschreibungen einer Gottunmittelbarkeit des Tieres. Ich bin dabei, das Tier als Weggefährten zu sehen. Ich bin dabei, das Tier als ein Geschöpf zu erleben, das eine eigene Beziehung zu Gott hat usw. Und diese, ja, facettenreiche, auch wertschätzende Lesart jenseits aller Sentimentalität ist in unsere jüdisch-christlichen Grundlagen eigentlich eingebettet.

Sigrid Brinkmann: Herr Miersch, lassen Sie uns noch einen Moment bei der Massentierhaltung, als dem Extrem, bleiben. Das ist ja das, worüber die meisten gar nicht nachdenken mögen. Man merkt das an sich selber. Wenn Bilder aufsteigen, ist man sehr schnell dabei, die Bilder von Käfigen wegzudrängen, das zu vermeiden. Sind diese Fabriken nicht so etwas wie der Lackmustest dafür, wie wir mit stummen Wesen, mit unsichtbaren Wesen, weil sie in Schlachthäusern natürlich unseren Blicken verborgen bleiben, umgehen?

Michael Miersch: Ja, Sie bleiben unseren Blicken verborgen. Es ist ja heute so, dass man selbst in Metzgereien kaum mehr tote Tiere sieht als gesamtes Tier, sondern nur noch als fertig geschnittene, eingeschweißte Scheiben. Also, wir sind von diesem ganzen Tötungsprozess und dem, was sozusagen vor der Leberwurst ist, sehr entfremdet inzwischen. Auf der anderen Seite ist das aber auch, das muss man sehen und das wäre eine Kritik, die ich an Foer auch hätte, seit 30 Jahren ein Thema und wirklich ein großes Thema. Foer tut ein bisschen so, als hätte er noch nie davon gehört. Und das kann nicht sein. Der erste Film über eine Hühnerbatterie in Deutschland lief 1967, war von Bernhard Grzimek. Seitdem sind Tausende Artikel erschienen und viele hundert Fernsehreportagen. Also, jeder, der es irgendwie ein bisschen wissen will, kriegt heute sofort ganz einfach diese Information, wo Fleisch herkommt. Und da, finde ich, schummelt Foer ein bisschen, weil, das ist in Amerika nicht anders. Sie haben richtig gesagt, man will's nicht wissen.

Sind die Tierfabriken der Lackmustest? Ich denke schon. Ich denke schon, dass das in gewisser Weise ein Irrweg ist, ein Irrweg, den man aber auch aus der Sicht der Bauern verstehen muss, das hat natürlich viel mit Effizienz zu tun. Es hat viel mit Hygiene zu tun, was wir nicht unterschätzen dürfen, wie viel Menschen früher an unhygienischer Fleischproduktion gestorben sind. Es hat viel mit teurer Arbeitskraft zu tun und Arbeitserleichterung für die Landwirte selbst. Und das ist natürlich in eine Richtung gegangen, die im Endeffekt moralisch nicht mehr zu rechtfertigen ist, was wir da Lebewesen antun.

Wobei man nicht dem Glauben verfallen darf, früher sei alles besser gewesen. Ich empfehle jedem nur mal ein Museumsdorf zu betrachten, da gibt’s ja genug, und sich mal die Stallungen anzugucken. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Schweinebuchten, wo sich die Sau keinen Schritt vorwärts und rückwärts bewegen konnte, absolut üblich. Lebenslange Ankettung von Milchvieh war absolut üblich. Also, es ist nicht so, dass die kleinbäuerliche Idylle, die wir uns vorstellen im 19. Jahrhundert, unbedingt tierfreundlich war. Heute ist die Sache halt nur im größeren Maßstab, ist auf Effizienz und Hygiene durchorganisiert. Und wir sind an einem Punkt, wo wir uns überlegen müssen: Ist das wirklich alles oder müssen wir den Aspekt des Tiergerechten, der humanen Unterbringung auch mit reinbringen, wo man dazusagen muss, das läuft ja schon seit einigen Jahren. Es sind ja einige Sachen nun verboten. Aber da ist natürlich immer noch ein Verbesserungsbedarf. Und es gibt zum Glück an vielen Universitäten Forschung, wo Wissenschaftler daran sind, diese Effizienzansprüche, die ja notwendig sind – also, Hygiene ist ja notwendig, und die Arbeitskräfte sind nicht da, die das Schwein jeden Tag irgendwie individuell streicheln –, die Methoden, Systeme finden, wie die Tiere auf humane Weise gehalten werden können und es wirtschaftlich immer noch vertretbar ist. Darin sehe ich auch die Zukunft. Und da gibt es heute schon viele gute Beispiele.

Sigrid Brinkmann: Herr Hagencord, machen wir uns an der Kreatur schuldig, wenn wir beim Fleischessen eben nicht mehr daran denken, wie sie gehalten werden, eben in Massenstallungen, und ob man sie beim Schlachten eben auch leiden ließ? Das weiß man auch.

Rainer Hagencord: Also, Sie stellen das große Wort des "schuldig" in den Raum. Damit berühren Sie ja auch die ideologische Hintergrundthematik. Wenn ich noch mal die Bibel anschaue, die unsere Grundlage ist, und natürlich von der Bibel ausgehend bestimmte theologische Tradition, dann würde ich sagen, ja – ausgehend vielleicht vom Bild, das jeder, jede ja noch kennt, der berühmte Noah-Bund, Sintflut, Arche usw., der Regenbogen, der hinterher in den Wolken steht als Zeichen dieses Bundes. Und das ist ausdrücklich ein Bund zu dritt. Also, dieser Bund, von dem die Bibel spricht, ist einer zwischen Mensch und Tieren. Die Tiere sind die Dritten im Bunde.
Damit ist die theologische Größe der Gottverbundenheit und damit auch die ethischen Implikationen im Grunde gesetzt. Und wenn dann eine Generation hingeht – was heißt, eine Generation? – eine Gesellschaft hingeht, die sich immer noch "christlich" nennt und die Dritten im Bunde für irrelevant erklärt, dann grenzt das schon an diesen theologischen Sach- oder Grundbestand eines sich Schuldigmachens.

Hinzu kommt dann aber: Tiere sind leidensfähige Wesen. Das wissen wir. Das wird immer mehr klar. Und was tun wir ihnen dann an, also, wider besseres Wissen. Und wenn ich noch ein Drittes dazu sagen darf: In der Kirche wird viel von Bewahrung der Schöpfung geredet. Und es wird immer wieder auch auf die Fahnen geschrieben. Und wenn ich dann mal in Hochglanzbroschüren der Bistümer nachschaue, dann kommt immer das Thema auf Regenwald und Klima und Rettung unserer Umwelt, aber der Fleischkonsum wird selten angesprochen. Und mir kommt es so vor, auch in Gesprächen, dass im Wissen vieler in der Kirche, im Bewusstsein vieler in der Kirche Puten, Hühner, Schweine, Rinder überhaupt nicht mehr in die Kategorie "Geschöpf" fallen. Es geht von der Entfremdung bis in diesen Bewusstseinswandel, bis in diese Ausgrenzungsgeschichten hinein, wonach diese Tiere Rohlinge der Fleisch-, Eier- und Milchindustrie sind und überhaupt nicht mehr in die Kategorie "Geschöpf" fallen. Ob das dann wiederum schuldhaft ist, das weiß ich nicht. Also, da, wo ich etwas nicht mehr weiß, über etwas schon lange nicht mehr nachdenke – und in der kirchlichen Tradition wurde über Jahrzehnte, Jahrhunderte überhaupt nicht mehr über Tiere nachgedacht –, kann ich es manch Zeitgenossen innerhalb der Kirche gar nicht übel nehmen. Ich muss da sozusagen Bewusstseinsarbeit leisten und sie immer mit der Nase drauf stoßen…

Sigrid Brinkmann: Was Sie sicherlich tun in Ihrem Institut. Aber wie kann man diese christliche Forderung, also, die Kreatur aus ihrer Demütigung zu befreien, dann praktisch übersetzen? Also, was leiten Sie ab? Was wären die Forderungen, die Menschen bewusster mit den Mitgeschöpfen umgehen zu lassen?

Rainer Hagencord: Das ist ein großes Paket. Es fängt bei dem, was wir so klassisch den Bewusstseinswandel nennen, an. Und ich merke gerade im Umgang mit Kindern, Jugendlichen, jungen Familien, dass da ein viel größeres Bewusstsein ist, die oftmals in der Kirche sich überhaupt nicht beheimatet fühlen und merken, aha, hier gibt’s aber jetzt neue Anfragen, neue Ansätze innerhalb der Kirche, die theologisch begründet sind, die diese Themen – Schöpfungsbewahrung im Blick auch auf Tiere/Ernährung – ernst nehmen. Also, hier Bewusstseinswandel ist das eine. Darauf setze ich sehr stark, auch in Kooperation mit Lehrerin, Lehrerinnen und Menschen, die in Gemeinde und Schule arbeiten. Und der Bedarf ist da ganz groß.

Und um ein Beispiel zu bemühen: Mich rief vor einigen Wochen noch ein Landwirt, der in der sogenannten Ferkelerzeugung arbeitet, an und sagte, er wolle mal hören, was ich denn da tue, weil er in großer Not sei. Die Hälfte seiner Kunden sei inzwischen depressiv. Und er selber kann das auch nicht mehr gut aushalten. Er sagt: Stellen Sie sich den guten münsterländischen Bauern vor, der aus dem Hochamt kommt und hat wieder mal 20 Ferkel, die er nicht losgeworden ist, und muss die ‚klopfen’. Also, man redet dann ja vom Klopfen. – Und das wiederholt sich mehrfach im Jahr. Und dieser Landwirt sagte mir: Daran werden sie krank. Das geht so nicht.
Er beschreibt allerdings auch die Not, in der er ist. Die Maschinerie läuft so. Die Absatzmärkte sind so. Und er bemüht sich dennoch, innerhalb des Systems durch mehr Zeit, durch vielleicht das Anstellen mehrerer zusätzlicher Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen, das Wohl der Tiere zu steigern. – Wir sind dabei, darüber mal nachzudenken, ob da nicht einiges geht innerhalb der klassischen Tierhaltung, wobei ich da sehr nüchtern bin.

Sigrid Brinkmann: Herr Miersch, Sie wollen auf Herren Hagencord antworten?

Michael Miersch: Ich glaube nicht, dass man sich schuldig macht, wenn man Fleisch isst. Ich glaube, das ist uns von unserer Natur her gegeben. Es wird Ihnen jeder Biologe, jeder Mediziner bestätigen. Der Mensch ist ein Allesfresser wie der Bär oder das Schwein, also ein Lebewesten, das eben sowohl pflanzliche als auch tierische Nahrung braucht.

Ich glaube aber, man sollte sich vielleicht erinnern an die guten alten Todsünden. Da ist ja die Völlerei dabei. Und das ist, glaube ich, das Problem, dass der Braten eben kein Sonntagsbraten mehr ist, sondern Fleisch in solch unglaublichen Mengen verzehrt wird, dass es eben nicht nur ethisch ein Problem ist – was tun wir den Tieren an? –, sondern auch die beiden Stichwörter, die Sie vorhin gesagt haben, zum Beispiel Regenwald und Klima, das ist ja auch ein gewaltiges Umweltproblem geworden. Wenn man an die 20 Milliarden Nutztiere denkt, die auf der Erde sind ... .

Sigrid Brinkmann: ... man hat schon gesagt, wir leben auf einem Planeten der Hühner oder einem Planeten der Rinder, eigentlich nicht mehr der Menschen, die sind zahlenmäßig völlig untergeordnet.

Michael Miersch: Was die brauchen an Nahrung – Stichwort Regenwald, Soja-Anbau –, was die auch ausscheiden, ein Riesenproblem – Stichwort Grundwasser –, also, das ist natürlich gewaltig. Und das muss dringend überdacht werden, wobei ich noch mal bei der Gelegenheit kurz sagen will, das Stichwort Massentierhaltung führt, glaube ich, in die Irre. Ich glaube nicht, dass es die Menge ist. Also, ich habe in meiner Arbeit als Journalist, der ich sehr oft über solche Themen geschrieben habe, schon sehr viele Tierhaltungen besucht und mir angeguckt. Und es gibt sehr gute Tierhaltungen in großer Zahl. Zum Beispiel in einem Schweinebetrieb ist ja immer nur eine gewisse Zahl von Schweinen zusammen und die nächsten sind dann eine Bucht weiter und eine Bucht weiter. Und ob da jetzt noch zehn weitere Buchten sind oder hundert, das kriegen die Schweine in der einen Bucht nicht mit. Und genauso ist es bei Rindern. Also, es ist nicht unbedingt die Zahl. Man kann auch drei Schweine schlecht halten. Es kommt auf das System an.

Und da ist es eben wichtig, dass die Sachen, ja, da ist auch der Gesetzgeber gefordert, einfach auch vorgeschrieben werden, diese Standards, wo man sagen kann, das ist eine vertretbare humane Tierhaltung. Wir tun dem Tier nichts Böses an damit.

Rainer Hagencord: Also, mir gefällt an dieser Stelle sehr die Passage, in der Jonathan Safran Foer davon redet, was er unter Massentierhaltung versteht. Und er sagt ja, es geht um eine Geisteshaltung – und dann eben schon im Vergleich mit vergangenen Zeiten, in denen der Landwirt, die Landwirtin sich noch an den Zyklen der Natur orientiert hat. Heute, in dieser Form der Tierhaltung wird die Natur als etwas zu Überwindendes, als etwas Störendes sozusagen wahrgenommen. Da kann ich gut einhaken.

Wenn ich das jetzt mal aus dem großen Naturbegriff löse und naturwissenschaftlich frage: Was sind Bedürfnisse eines Schweins? Da haben wir ganz klare Abhandlungen, klare ethologische Paradigmen, von denen wir sagen können, die sind sozial kompatibel. Die brauchen ein Sozialsystem. Die brauchen ein bestimmtes Biotop. Und von diesen Argumenten her kann ich mich dann fragen: Wo werden wir schuldig? Wo wird eine Tierhaltung nicht mehr angemessen, weil sie diese ursprünglichen Bedürfnisse eines Tieres leugnet?

Und was mir auch noch mal gerade gefallen hat, ist, dass Sie eine der Todsünden, die Völlerei, angeführt haben, um deutlich zu machen, wir befinden uns hier tatsächlich in einem Bereich von Schuld, aber gleichzeitig in einem Dilemma, weil wir leben von Leben. Die Bibel ist da sehr unsentimental, sie kennt das. Sie weiß, wir müssen auch Tiere schlachten. Es gehört das Pessach-Lamm in die Tradition hinein. Also, um jetzt eine andere Haltung und eine andere Tierhaltung zu bemühen, muss ich die aktuellen Daten hinzunehmen, um dann den Begriff der Sünde stark zu machen. Und Völlerei, jetzt global, ist genau ein Kennzeichen dieser Industrienationen, von denen (der Naturphilosoph – Anm. d. Red.) Meyer-Abich immer gesagt hat: sie sind wie interplanetarische Eroberer, die so tun, als sei dieser Planet nur Ressource, nur für sie da, und in dieser dreifachen Verantwortungslosigkeit agieren - unverantwortlich gegenüber der natürlichen Mitwelt, der Nachwelt und der so genannten Dritten Welt. Und diese drei Parameter kann ich problemlos anwenden auf dieses Phänomen Tierhaltung. Und dann habe ich ein klassisches Format – da machen wir uns schuldig.

Michael Miersch: Wobei ich ein bisschen differenzieren würde. Landwirtschaft im Einklang mit der Natur, ich glaube, das war noch nie so. Landwirtschaft ist natürlich in gewisser Weise auf die Natur angewiesen und kann sich ihr nicht völlig entgegenstellen, auf die Bedingungen des Wetters der Böden usw., aber Landwirtschaft ist auch von den Ursprüngen her schon ein Kampf gegen die Natur, ein Abringen der Natur. Also, wenn Sie im Einklang mit der Natur leben, haben Sie ein Feld einfach voll Unkraut. Sie müssen der Natur schon das Getreide abringen. Sie müssen natürlich heftig tätig werden, um die Ernte zu sichern gegen Schädlinge und alle möglichen Widrigkeiten. Ich glaube, dass auch der Landwirt in früheren Zeiten ganz schön bemüht sein musste, die Natur auch zu überwinden, um genügend zu Essen zu haben.
Sigrid Brinkmann: Hat denn, Herr Miersch, aus ihrer Sicht der Vegetarismus eine Chance? Über das Buch von Jonathan Safran Foer "Tiere essen" haben wir eingangs gesprochen. Er setzt ganz klar auf den Vegetarismus, guckt auf die amerikanischen Verhältnisse, aber das gibt’s doch hier auch.

Michael Miersch: Aber er hat auch ein versöhnliches Schlusskapitel, wo er sagt, na gut, wenn Sie es nicht schaffen, Vegetarier zu werden, dann essen Sie zumindest bewusster, reduzieren Sie Ihren Fleischkonsum. Schauen Sie, wo es herkommt. Also, er ist nicht so apodiktisch am Schluss. Das hat mir auch gefallen. Das hat ihn mir sehr sympathisch gemacht.

Was den Vegetarismus angeht, muss ich sagen, bin ich sehr pessimistisch. Ich gebe den Vegetariern recht, dass Vegetarismus aus ethischen Gründen, aus Umweltgründen, aus sehr vielen Gründen eigentlich sehr vernünftig für die Welt wäre. Aber ich glaube, es ist wie mit der sexuellen Enthaltsamkeit. Es ist eine Kopfgeschichte. Und der Körper gibt uns andere Signale. Und wenn man sieht, dass zum Beispiel in Kulturen, die seit Jahrtausenden den Vegetarismus predigen, wie in Indien, wie in Sri Lanka, nur eine kleine Gruppe von sehr frommen Menschen das wirklich konsequent einhält und alle anderen versuchen, dass sie es irgendwie umschiffen und zumindest Eier essen oder Fisch oder auch mal ein Huhn oder Lamm. Wenn Sie nach Indien kommen, an jeder Straßenecke ist eine Garküche mit Fleisch, obwohl ja der Hinduismus sagt: gar nichts. Und wenn selbst da die konsequenten, vielleicht drei, vier Prozent ausmachen und bei uns seit Jahren auch eine starke vegetarische Welle ist, auch mit einer gewissen publizistischen Begleitmusik, jede Mittelstandsfamilie hat heute mindestens eine Tochter, die vegetarisch lebt. Und Sie sehen aber dann, der Vegetarismus ist bei fast allen Menschen, das sieht man auch im eigenen Bekanntenkreis, eine Lebensabschnittssache. Irgendwann wird er wieder aufgegeben, dann wieder aufgenommen.

Also, ich glaube, dass die Ernährungswissenschaftler und Biologen uns da die beste Antwort geben. Sie sagen, unser Körper verlangt nach tierischem Eiweiß. Man kann sich nicht dagegen wehren, wenn man Hunger hat und an einem Grillgeruch vorbeikommt, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Und das ist mehr als eine kulturelle Tradition. Es ist mehr als Erziehung. Es hat was mit Biologie zu tun. Und ich glaube, der Weg zu sagen, vernünftiger Fleischkonsum, ethisch vertretbarer Fleischkonsum ist erfolgversprechender als zu sagen, werdet alle Vegetarier. Das wird scheitern.

Sigrid Brinkmann: Ist das, Herr Miersch, vielleicht eine optimistisch stimmende Aussicht, dass Agronomen und Biotechniker ja längst nach Verfahren suchen, das Tier in unserer Nahrungskette zu überspringen, das heißt, Fleisch aus Zellen zu erzeugen und sich möglicherweise das Künstliche erweisen könnte als Rettendes für das Natürliche?

Michael Miersch: Also, das ist für mich persönlich eine ganz große Hoffnung. Ich hoffe sehr, dass ich das in meinem Leben noch erleben werde. Es sind ja Teams daran in Holland, in den Vereinigten Staaten und in Norwegen sehr intensiv. Deutschland weiß ich jetzt leider nicht, aber das wäre mal was, da könnten auch Tierschutzorganisationen usw. auch mal Geld investieren in solche Forschung. Die Grundlagen kommen ja aus der Medizin, dass man versucht hat, Hautzellen – zum Beispiel für Verbrennungsopfer – zu vermehren, um den Menschen helfen zu können. Aber die Mechanismen sind natürlich dieselben. Die große Hürde ist im Augenblick noch: Man kann, um es mal ganz praktisch für die Zuhörer zu sagen, so eine Art Masse, soweit ist man schon, also, so eine Art Leberkäse oder Leberwurst könnte man schon herstellen, aber es ist ganz schwierig, diese Muskelstruktur des natürlichen Fleisches zu imitieren, also ein Steak oder ein Schnitzel zu produzieren. Aber wenn das möglich ist, das wäre, glaube ich, die größte Revolution, die wir in den letzten 100 Jahren oder noch länger erlebt haben. Das hätte die Dimension von der Verhütungspille oder von der Massenmotorisierung oder vom Internet, wenn man sich einfach mal überlegt, dass diese unglaubliche Masse an Tieren, die den Planeten ja wahnsinnig beeinflusst, plötzlich nicht mehr notwendig ist und wir in industrieller Weise Fleisch herstellen können ohne Tiere. Das Problem ist natürlich, dass viele Leute damit ein Problem haben werden, weil das dann, ja, es ist künstlich, hat das was mit Gentechnik zu tun…es ist irgendwie ein bisschen unheimlich. Insofern glaube ich nicht, dass es sich von heute auf morgen durchsetzen wird. Aber da ich in der Tendenz ein fortschrittsoptimistischer Mensch bin, fände ich das eine ganz tolle Sache, wenn das wirklich eines Tages möglich sein könnte.

Sigrid Brinkmann: Lassen Sie uns noch einen Moment wieder zurückspringen und zurückschauen, wenn wir über unser Verhältnis zu den Tieren oder zur tierischen Existenz reden, Herr Hagencord, Sie sind ja prädestiniert dazu, zurückzuschauen, auch auf biblische Zeiten, auf die Zeugnisse aus dieser Zeit. Wenn man die westliche Glaubens- und Denkgeschichte sieht, wo gab es dort für Sie Etappen, an denen das Spiel der Achtung vor dem Tier wirklich auf der Kippe stand?

Rainer Hagencord: Es gibt viele Punkte in der europäischen Denkgeschichte. Ich glaube, ein markanter Punkt ist schon die Renaissance, wenn ich mir die Zeit im Europa des 15., 16. Jahrhunderts vorstelle mit der ersten Kränkung der Menschheit - kopernikanische Wende…ich denke an die Religionskriege, Reformation. Ich denke an die große Frage, die hier virulent war: Was ist der Mensch in der gesamten Natur? Welche Rolle hat er? Was macht ihn aus? Und dann höre ich sie, die großen Denker - Descartes, Bacon, Leibniz - und ich erlebe, höre sie als Garanten einer menschlichen Freiheit, des Subjektes, eines neuen Aufbruchs. Und ich erlebe sie aber auch als Denker, die sich von der Natur abwenden, die die Natur als – gut, man kann's auch verstehen, also, eine Pestepidemie hatte tatsächlich bedrohliche Ausmaße, die wir uns nicht vorstellen können - also Natur wirklich auch als bedrohlich zu erleben. Es war ein Impetus, sich auch von der Natur abzusetzen und sich stark zu machen.

Nur noch mal: In der Rückschau, wie kommt es, dass zum Beispiel im deutschen Gesetz bis 1996 das Tier "bewegliche Sache" war? Das kann man rückbuchstabieren bis zu Descartes, der Tiere als "seelenlose Automaten" beschreibt, bis zu Kant, für den es nur noch Personen und Sachen gibt. Und natürlich sind Tiere Sachen. Das Fatale ist, dass auch so jemand wie Descartes dann hingeht und biblische Begriffe, biblische Metaphern nimmt, um seine Anthropologie, die ich dann als eine "Anthropologie mit dem Rücken zum Tier" beschreibe, zu legitimieren. Da steht doch, sagt er etwas flapsig, "macht euch die Erde untertan, herrscht über die Tiere", nicht wissend, dass diese Begriffe in diesen Texten, die zweieinhalbtausend Jahre alt sind, immer eine Verantwortungsethik implizieren. Also, ‚herrschen über’ und ‚untertan machen’ sind für den biblischen Autor Attribute eines guten Hirten und eines guten Königs. Aber hier kommen plötzlich die altbekannten Begriffe. Die altbekannten Bilder werden herangeführt, um einen ja dann vielleicht auch neuen Dualismus stark zu machen, in dem dann auch nur noch der Mensch die vernunftbegabte Seele hat. Auch hier fatal: Die Bibel kennt überhaupt nicht diesen Dualismus, wonach einige Wesen eine Seele haben und andere nicht. Die Bibel ist da monistisch. Das heißt, Mensch und Tier sind lebendige Seele.

Ich glaube wirklich, in dieser Zeit wurde ein Graben vielleicht vertieft, aufgemacht, wie auch immer. Descartes hat angeknüpft an dualistische Theorien und, wenn ich an Augustinus denke, naturverneinende Denkweisen. Aber hier fängt das an, was letztlich in die ökologische Katastrophe geführt hat.

Michael Miersch: Wenn ich den Kant mal in Schutz nehmen darf: Sie haben natürlich völlig recht, aber immerhin er hat sich mit dem Problem ja auch beschäftigt und er hat gesagt, dass es dem Menschen nicht gut tut, also dass es dem Menschen schadet, grausam zu Tieren zu sein. Und das finde ich einen ganz wichtigen Aspekt. Also, auch wenn man jetzt eher von der agnostischen Position herkommt oder einer atheistischen Position oder auch wenn man sagt, Mensch und Tier sind grundsätzlich unterschiedlich, wie im Katholizismus zum Beispiel die Hauptlehrmeinung ist, gibt es trotzdem genügend Gründe, Tiere gut zu behandeln, einfach auch, um sich als Mensch vor Verrohung zu schützen. Es gibt ja die Forensik. Man kennt das, Serientäter haben fast alle mit Tierquälerei angefangen. Wenn man schlecht zu Tieren ist, stumpft das ab. Ein Tier ist ja was anderes als eine Pflanze oder ein Stein. Jedem Kind ist intuitiv die Ähnlichkeit klar. Und wenn ich zu einem Wesen schlecht und grausam bin, das menschenähnlich ist, ist ganz klar, dass das Folgen auch für meine Verrohung gegenüber Menschen hat. Und insofern möchte ich nur ergänzen, selbst wenn man nicht an diese Beseeltheit glaubt, dass es dennoch genügend gute Gründe gibt, Tiere human zu behandeln.

Sigrid Brinkmann: Herr Hagencord, das von Ihnen gegründete Institut für theologische Zoologie in Münster ist jetzt ein Jahr alt. Im Dezember haben die Feierlichkeiten stattgefunden. Was ist das Ziel? Wenn Sie dazu noch etwas sagen würden.

Rainer Hagencord: Das Ziel ist mindestens ein doppeltes. Ein Ziel ist eine theologische Würdigung des Tieres, das auch im interdisziplinären Dialog, im Diskurs innerhalb der Theologie überhaupt gar nicht existiert. Es gibt theologische Anthropologien, aber es gibt keine theologische Zoologie – und das eben auf der Folie einer Bibel, in der die Tiere sich selbstverständlich tummeln.

Also, ich habe hier ein ganz starkes wissenschaftliches Interesse, über Lehrveranstaltungen usw. eine interdisziplinär verortete theologische Würdigung des Tieres zu etablieren. Und dann bin ich beim zweiten Punkt, denn das ist nicht folgenlos: Es führt in deutliche Optionen. Es führt in eine vielleicht auch politisch relevantere Theologie, eine politisch relevantere Kirche, die sich dann einmischt an den Stellen, an denen die Würde der Tiere mit Füßen getreten wird und auch mit den gerade schon angesprochenen Implikationen für die Dritte Welt und unsere Nachwelt usw. Also, Bewusstseinswandel ist das eine, und auch vielleicht eine neue Disziplin innerhalb der Theologie stark zu machen.

Sigrid Brinkmann: Zur Tradition der Lesart gehört es, dass unsere Gäste Lektüreempfehlungen geben. Herr Hagencord, welches Buch lesen Sie gerade oder von welchem möchten Sie, dass es mehr Leser findet?

Rainer Hagencord: Ich habe mir noch mal Jane Goodall "Grund zu Hoffnung" (Verlage Riemann und Goldmann) vorgenommen, seitdem jetzt auch ihr Film gelaufen ist. Sie ist Schirmherrin des Institutes. Und ich merke, dass ich für mich Gestalten der Hoffnung brauche, die die Wirklichkeit, wie sie ist, in den Blick nehmen, aber nicht in eine Apathie oder einen Zynismus fallen, sondern in ein Engagement. Und da ist Jane Goodall für mich eine der großen Frauen. Und ich finde ihre Biographie da sehr beeindruckend.

Und das zweite ist das neuere Buch von Andreas Weber "Biokapital" (Berlin Verlag), weil Andreas Weber es schafft, finde ich, mit einer sehr anspruchsvollen Sprache, auch einer Liebe zur Poesie und gleichzeitig mit einem Fachwissen im ökonomischen-ökologischen Kontexten einen Weg beschreibt, der – ja, das Wort sagt es – "Biokapital". Wir können auch anders mit der Landwirtschaft umgehen, eine andere Agrarkultur betreiben, ohne dafür ein Land der Dritten Welt zu werden. Also, Andreas Weber, "Biokapital" wäre meine zweite Empfehlung.

Sigrid Brinkmann: Herr Miersch, welches Buch legen Sie uns nahe?

Michael Miersch: Ja, da mir ja hier in der Diskussion ein bisschen die Rolle zugefallen ist, über die Praxis zu reden und weniger über den theologischen oder philosophischen Überbau unseres Verhältnisses zu den Tieren, möchte ich auch ein ganz praktisches Buch empfehlen. Es hat den Titel "Protein – Population – Politik", ist von dem Agrarwissenschaftler Prof. Gerhard Flachowsky u.a., im Untertitel "Wege zur nachhaltigen Eiweißversorgung im 21. Jahrhundert", im Plexus Verlag erschienen. Und es geht um die großen globalen Tendenzen in der Ernährung. Wir haben ja zur Zeit das Phänomen, dass die Schwellenländer, wie China und Indien, dass da der Fleischkonsum rasant ansteigt. Und die Probleme, die das eben bringt, wie man sie lösen kann, die ethischen Fragen, die daran hängen, die ökologischen Fragen, die wirtschaftlichen Fragen, da finde ich, dass dieses Buch einen sehr guten Überblick bringt über die globale Fleischversorgung, wie sie im Augenblick aussieht und welche Probleme sie bereitet und welche Lösungen es auch geben kann – bis hin zu dem, was wir vorhin angesprochen haben, dass es vielleicht technische Lösungen geben wird, Fleisch zu produzieren ohne Tiere.

Sigrid Brinkmann: Die Lesart geht zu Ende. Gäste waren heute der Theologe Rainer Hagencord und der Publizist Michael Miersch. Ich bedanke mich für Ihr Kommen. Die von Rainer Hagencord verfassten bzw. herausgegebenen Bücher: "Wenn sich Tiere in der Theologie tummeln" und "Diesseits von Eden" sind im Friedrich Pustet Verlag herausgekommen. Michael Miersch ist der Autor vieler Bücher. Zwei wollen wir mindestens erwähnen. Da ist das Buch "Life Counts – Eine globale Bilanz des Lebens" und "Biokost und Ökokult", erschienen im Piper Verlag.

Schon morgen, am Zweiten Weihnachtstag folgt die nächste Lesart. Wir stellen neue Hörbücher vor. Redakteurin dieser Sendung war Gabriele Kalmar. Am Mikrophon verabschiedet sich Sigrid Brinkmann. Einen angenehmen, friedlichen Tag wünsche ich.
Cover Jonathan Safran Foer: "Tiere essen"
Cover Jonathan Safran Foer: "Tiere essen"© Kiepenheuer&Witsch
Cover Rainer Hagencord: "Wenn sich Tiere in der Theologie tummeln"
Cover Rainer Hagencord: "Wenn sich Tiere in der Theologie tummeln"© Friedrich Pustet Verlag