Die Kraft der Erkenntnis

09.08.2012
Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten - fünf Sinne zeichnen den Menschen aus. Der antike Philosoph Aristoteles aber meinte, dass es eine weitere Kraft geben muss, mit der die Seele alles wahrnimmt. Der US-Autor Daniel Heller-Roazen berichtet über dieses beinahe vergessene Gefühl.
Zu Beginn des Buches klettert ein Kater über die Dächer einer nächtlichen Stadt. Der Vollmond wirft funkelnde Strahlen herab, und das Tier philosophiert über die Vernunft der Zweibeiner. Braucht er sie selbst, um glücklich sein? Nein, denkt der Kater. Oder besser gesagt: Er fühlt es. Denn er lässt sich treiben von der mächtigsten aller Empfindungen: dem "Gefühl des Daseins". Genau dieses Gefühl des Lebendig-Seins ist es, dem sich Daniel Heller-Roazen widmet. Mal literarisch, wie beim Ausflug in E. T. A. Hoffmanns "Lebensansichten des Katers Murr", mal handfest philosophisch, wenn er "De Anima", die Seelenlehre des Aristoteles, untersucht.

Fünf Sinne fand der griechische Philosoph beim Menschen: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und den Tastsinn. Doch bald erkennt er, dass es eine "einheitliche Kraft" gibt, mit der die Seele dies alles wahrnimmt. Diese Kraft, schreibt Heller-Roazen, wurde oft als (Selbst-)Bewusstsein, als etwas zur Vernunft Gehörendes gedeutet. Für den Autor aber hat der "Gemeinsein" eher mit dem Wahrnehmen zu tun. Könnte es sein, dass unser Bewusstsein eine "Unterart von Berührung und Kontakt" ist, ein "innerer Tastsinn"?

Mit dieser These gräbt sich Heller-Roazen in 25 Kapiteln durch die Philosophiegeschichte. Der Autor, Jahrgang 1974, spricht knapp ein Dutzend Sprachen. Er hat Philosophie und Literatur studiert und ist mit 31 Jahren zum Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft in Princeton berufen worden. Sein Buch "Der innere Sinn" ist literarische Philosophie. Es fordert Geduld, Zeit und Muße - und belohnt die Leser mit einem klaren, brillanten Schreibstil.

Immer wieder wartet es mit philosophischen Anekdoten auf, in denen Tiere eine auffällige Rolle spielen. Etwa wenn der Stoiker Hierokles über die Selbstwahrnehmung einer Kröte staunt, die genau wisse, ob sie den Sprung über eine Grube schaffe. Oder wenn der Franzose Rousseau, von einer Dogge überrannt, in Ohnmacht fällt - um beim Aufwachen von einem ähnlichen Lebensgefühl zu schwärmen wie Hoffmanns Kater Murr.

Der "innere Sinn" als ein Gefühl also, das Menschen und Tieren gemeinsam ist? Dies gilt bis ins 17. Jahrhundert, bis René Descartes mit seinem Diktum "Ich denke, also bin ich" alle menschlichen Sinnesempfindungen als Denkakte festschreibt. Dieser Ansatz errichtet eine Schranke zwischen Mensch und Tier, schreibt Heller-Roazen, und führt zu erheblichen Spätfolgen: zum Verlust des "inneren Sinns" bei den Zweibeinern. Heutzutage, schreibt Heller-Roazen, strebten die Menschen zwar "danach über sich selbst nachzudenken"; aber sie "fühlen [nicht mehr], dass sie fühlen".

Aristoteles wäre diese Unempfindlichkeit völlig "unmenschlich" erschienen, stellt der Autor fest, und rückt den Tastsinn wieder in den Blick. Denn das feine Tasten mache nach Aristoteles den Menschen zum klügsten Lebewesen. "Was hieße es für den Tastsinn, zur Wurzel des Denkens, und umgekehrt für das Denken, in seiner höchsten Form zu einer Art Tastsinn zu werden?" Genauer als mit dieser Frage kann auch Heller-Roazen den "inneren Sinn" nicht bestimmen. Für ihn ist klar, dass wir unser Lebendig-Sein nicht erfassen können wie ein Ding unter anderen - obwohl wir es unablässig berühren: in der Wahrnehmung, dass wir wahrnehmen und in dem Gedanken, dass wir denken.

Besprochen von Marcus Weber

Daniel Heller-Roazen: Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls
Aus dem Amerikanischen von Horst Brühmann
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2012
512 Seiten, 24,99 Euro