Die Kirchen und die Säkularisierung

Von Kirsten Dietrich · 12.02.2011
Islamistischer Terror, Papstbegeisterung, neue konfessionelle Schulen: Vieles scheint auf ein Comeback der Religion hinzudeuten. Drei Bücher gehen dem Phänomen auf die Spur.
Die Säkularisierung findet nicht statt. Jedenfalls nicht in der Form, in der sie Sozialforscher immer wieder vorhergesagt hatten: dass nämlich die Gesellschaften der westlichen Welt immer moderner würden und dabei automatisch die Religion immer weiter zurückgedrängt werde. Diese Erkenntnis haben zwar einzelne Wissenschaftler schon vor einigen Jahrzehnten vertreten. Aber Ereignisse wie islamistisch begründeter Terror, Papstbegeisterung oder auch die steten Neugründungen konfessioneller Schulen haben der Rede von der Rückkehr der Religion neue Wucht verliehen. Dabei bleibt allerdings ein Unbehagen.

Diesem geht der Sammelband "Der Westen und seine Religionen" nach. Der Untertitel des Bandes deutet es an: er fragt "Was kommt nach der Säkularisierung?" Wie sieht eine Gesellschaft aus, in der verschiedene Religionen und Religion überhaupt – die beiden Aspekte hätten vielleicht klarer getrennt werden können – wieder oder immer noch eine Rolle spielt? Positive Szenarien lassen sich daraus ebenso ableiten wie negative. Das positive entwirft zum Beispiel Wolfgang Schäuble, wenn er Religion in den Dienst der Gesellschaft nimmt. Dabei bezieht er sich auf das Diktum, dass der Staat seine Grundlagen nicht selbst schaffen könne.

Religion ist und bleibt eine wichtige Ressource, aus der fundamentale Wertorientierungen entspringen. (…) Dabei geht es nicht nur um die Überzeugung Einzelner. Religion ist wesentlich eine Sache von Gemeinschaft, und gerade in dieser Dimension ist sie in unserer immer individualistischer werdenden Gesellschaft von Bedeutung.

Die Schattenseiten einer religiös geprägten Gesellschaft verhandelt der Sammelband "Der Westen und seine Religionen" vor allem anhand der Debatte um die Zuwanderung aus muslimisch geprägten Kulturen und ihre Folgen. Er druckt die umstrittenen Betrachtungen christlicher Gemälde durch den Islamwissenschaftler und Schriftsteller Navid Kermani nach, fragt nach der Vereinbarkeit von Islam und Grundgesetz oder der Toleranzfähigkeit von Jugendlichen. Die Schlussfolgerungen sind größtenteils optimistisch: die neue Religiosität gefährdet das Projekt der Moderne nicht, sondern bereichert und erdet sie. Und doch bleibt in all dem Optimismus ein leises, aber eindringliches Unbehagen an neuen, einschränkenden Zuschreibungen hörbar – wohl nicht zufällig von einem Autor jüdischer Herkunft, dem Historiker Dan Diner.

Erlauben Sie mir zuerst ein Staunen über die Zuordnung meiner Person, dass ich hier offensichtlich als Vertreter einer Religion gesehen werde. (…) Da ist etwas Neues im öffentlichen Raum zu spüren, da verändert sich gerade das Klima dieses Landes, wird religiöse Herkunft offensichtlich zunehmend wichtiger.

Für die christlichen Kirchen reicht es nicht aus, die neue Rolle der Religion zu feiern oder eine fortschreitende Säkularisierung generell zu bestreiten. Das verdeutlicht eine Untersuchung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland unter dem Titel "Säkularisierung. Eine ökumenische Herausforderung für die Kirchen". Denn der Prozess der Säkularisierung habe bei allem neuen Augenmerk auf Religiöses nicht aufgehört.

Die Autoren der Studie verstehen Säkularisierung nicht als spektakuläres und automatisches Ende aller verfassten Religion, sondern als langsamen Prozess, in dem andere Weltdeutungen gleichberechtigt neben die religiösen oder speziell: kirchlichen treten. Die Studie zeichnet diesen Prozess differenziert nach, auch um deutlich zu machen: vor allem die protestantischen Kirchen fördern den Prozess der Säkularisierung, sind gleichzeitig aber auch religiöse Heimat von Menschen und Gruppen, die diesen Prozess ablehnen.

Dabei zeigt sich ein grundlegendes Dilemma: Auf der einen Seite ist die Anerkennung der individuellen Freiheit auch in Glaubensfragen zu einem "Markenzeichen" des "offiziellen" Protestantismus geworden. Zugleich aber ist ein Unbehagen über das damit verbundene Risiko der Identitätsdiffusion unverkennbar: Wofür, für welche Überzeugungen steht die evangelische Kirche eigentlich noch?

Ganz klar werden die Autoren dann aber beim Blick über die innerprotestantische Diskussion hinaus: Für den Kern der Säkularisierung, das Versprechen einer Welt ohne religiösen Zwang nämlich, müssen auch und besonders die Kirchen eintreten.

In der Ökumene ist es Aufgabe des Protestantismus (...), allen Autoritäten Machtansprüchen von Kirchen und allen fundamentalistischen Vereinfachungen zu widerstehen, für Religionsfreiheit einzutreten und die Weltlichkeit der Welt anzunehmen, sie zu achten und sie gerade darin als Schöpfung Gottes zu verstehen.

Klar innerhalb der kirchlichen Diskussion schließlich bleibt Joachim Kunstmann mit seinem Buch "Rückkehr der Religion". Auch wenn der Titel plakativ klingen mag, Kunstmann will den Blick jenseits der euphorischen Schlagzeilen über Großereignisse auf die Realität in den Kirchengemeinden richten. Und die sehe nach wie vor trüb aus.

Auch für Christen scheint Religion jede Absolutheit, Verbindlichkeit und Selbstverständlichkeit zu verlieren. Gott wird inzwischen immer häufiger mit dem bestimmten Artikel verbunden: man spricht dann nicht mehr von "Gott", sondern von "dem" Gott. "Der Gott" ist kein Absolutum mehr.

Kunstmann ist evangelischer Theologe, betont aber bewusst nicht die konfessionellen Unterschiede. Ihm geht es um eine allgemein "christliche Lebenskunst". Nur sie werde dem Einzelnen und seinen erst in der säkularen Welt zu ihrem Recht kommenden Bedürfnissen gerecht.

Die Zukunft der Kirche wird sich an ihrer Spiritualität entscheiden, und zwar nicht nur an der von ihr selbst gelebten, sondern auch an deren Nachvollziehbarkeit im Leben der Menschen. (…) Kaum etwas wäre für die Menschen heute so attraktiv wie eine heilende, d.h. orientierende, zurechtbringende, lösende Form von Religion. Das muss theologisch gewollt und in der Kirche zu spüren sein. (…) Die Agenturen des Christentums müssen zeigen, was überhaupt Religion ist und wie man in kluger Weise mit ihr umgeht.

Die Religion kehrt zurück – aber ausgerechnet die Kirchen müssen sich erst darauf einstellen. Es ist nicht die Zeit für einen kurzlebigen Triumph, darin sind sich die mehrheitlich christlich geprägten Autoren der vorgestellten Bücher einig. Stattdessen aber könnte und sollte es die Stunde einer neuen Anerkennung für Säkularität und Weltlichkeit sein – die eben nicht notwendig religiöse Bedürfnisse und Weltdeutungen zerstören.


Christian Peters / Roland Löffler (Hg.): Der Westen und seine Religionen – Was kommt nach der Säkularisierung?
Herder Verlag Freiburg im Breisgau 2010, 219 Seiten, 19,95 Euro

Joachim Track / Oliver Schuegraf / Udo Hahn (hg. Im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD): Säkularisierung – Eine ökumenische Herausforderung für die Kirchen. Eine Studie des Ökumenischen Studienausschusses der VELKD und des DNK/LWB
Amt der VELKD Hannover 2010, 122 Seiten, zu bestellen direkt beim Amt der VELKD (versand @velkd.de) für 8 Euro oder im Buchhandel, ISBN 978-3-9812446-7-0.

Joachim Kunstmann: Rückkehr der Religion – Glaube, Gott und Kirche neu verstehen
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010, 318 Seiten, 24,95 Euro