Die Kehrseite von Hierarchie und Macht

Von Martin Tschechne · 03.10.2011
Es genügt, in die U-Bahn hinab zu steigen, vielleicht den Weg einer Gruppe johlender junger Männer oder auch Frauen durch die Innenstadt zu kreuzen. Oder einfach im falschen Moment an der falschen Stelle zu stehen: Die Gewalt ist schon da.
Ein Schüler rastet aus. Nimmt ein Gewehr aus dem Waffenschrank seines Vaters, geht in die Schule und schießt auf alles, was sich bewegt.

Zwei Halbwüchsige bedrohen eine Gruppe von Jugendlichen in der S-Bahn. Ein mitfahrender Mann geht dazwischen. Die Halbwüchsigen schlagen ihn tot.

Ein junger Handwerker wartet im Bahnhof auf seinen Zug. Ein Betrunkener schlägt ihn mit einer Bierflasche zu Boden, tritt ihm ins Gesicht, springt mit beiden Füßen auf den Kopf des Opfers – alles ohne jeden Anlass. Wer Belege sucht für Gewalt, für eine offenkundig sinnlose, alle Grenzen und Gesetze der Mitmenschlichkeit missachtende, eine sich jedem noch so verständnisbereiten Versuch einer Deutung entziehende Gewalt – der braucht nicht Srebrenica zu zitieren oder Somalia, nicht Libyen, den Sudan, Afghanistan, Ruanda oder jüngst Oslo. Es genügt, in die U-Bahn hinab zu steigen, vielleicht den Weg einer Gruppe johlender junger Männer oder auch Frauen durch die Innenstadt zu kreuzen. Oder einfach im falschen Moment an der falschen Stelle zu stehen. Die Gewalt ist schon da.

Aggression sei ein Trieb, meinte Sigmund Freud. Eine Art menschliche Grundkonstante. Sehr viel Ermutigendes fiel ihm deshalb auch nicht ein, als der Physiker Albert Einstein ihn 1932 um Rat fragte, was denn wohl gegen die heraufziehende Gefahr eines Krieges zu tun sei. Heute wirft Joachim Bauer seinem berühmten Vorgänger dafür vor, auf der ganzen Linie versagt zu haben. Gewalt sei nicht einfach schon da. Sie habe Quellen, Ursachen, Auslöser. In seinem jüngst erschienenen Buch "Schmerzgrenze" schreibt der Freiburger Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut:

"War es dem Seelenforscher wirklich verborgen geblieben, welchen immensen Einfluss Demütigungen und Ausgrenzung auf die Entstehung von Gewalt haben (man denke an Deutschlands demütigende Situation nach dem Ersten Weltkrieg)? Hatte er nicht erkannt, wie sehr soziales Elend und die Ungleichverteilung von Ressourcen (verschärft durch die damalige Weltwirtschaftskrise) Gewalt begünstigen können? War dem Gründer der Psychoanalyse verborgen geblieben, welche gefährlichen, die Aggression enthemmenden Effekte sich aus Dehumanisierungsstrategien ergeben?"

Planmäßige Unterdrückung, die Ausbeutung fremder Ressourcen unter dem zunächst unverdächtigen Wort "Globalisierung", eine Wirtschaftskrise, die allgegenwärtige und provozierende Demonstration von Macht auf der einen Seite und das um so schmerzhaftere Erleben eigener Ohnmacht auf der anderen – was der Arzt und Psychotherapeut als "Dehumanisierungsstrategien" bezeichnet, prägt längst das Lebensgefühl ganzer Völker, Kulturen und Kontinente. Wenn Freud mit seinem "Aggressionstrieb" schon vor 80 Jahren nichts darauf eingefallen ist, so legt Bauer nahe – was könnte er wohl heute antworten?

Eugen Sorg repräsentiert ein Gegen-Konzept. Auch er hat das Phänomen Gewalt sein halbes Leben lang studiert – als Reporter, der seit 20 Jahren aus den Kriegs- und Krisengebieten der ganzen Welt berichtet, als offizieller Beobachter des internationalen Roten Kreuzes, aber auch als Psychotherapeut in der so friedlichen Schweiz. Nichts ist ihm fremd geblieben. Nicht der planmäßig inszenierte Genozid in Bosnien oder in Ruanda, nicht die Dorfgemeinschaften im ehemaligen Jugoslawien: Nachbarn waren sie, haben gemeinsame Feste gefeiert – bis sie einander plötzlich aus den Häusern zerrten, um sich gegenseitig zu massakrieren. Und auch die Gruppe junger Männer ist dem Gewaltforscher begegnet, nette Jungs aus gutem Hause, harmlos, unauffällig. Sie wollten einfach mal eine "geile Zeit" haben. Also zogen sie durch die Stadt, überfielen wahllos Passanten und prügelten sie halb zu Tode. Eines ihrer Opfer lag hinterher bewusstlos auf einer Parkbank; der Kopf hing über die Lehne. Sie traten nach ihm wie nach einem Fußball.

Sorg hat seine Beobachtungen kürzlich in dem Buch "Die Lust am Bösen" zusammengefasst. Es ist selbst ein böses Buch, unversöhnlich, enerviert, sogar angriffslustig. Eine Polemik. Der Autor hat zu viel gesehen. Er hat keine Geduld mehr mit den Gutmenschen und den Weichspülern und den Allesverstehern, die wie in einem konditionierten Reflex zuallererst den Täter in Schutz nehmen: Ach Gott, ja, er werde wohl eine harte Kindheit gehabt haben. Gewalt sei ein Ruf nach Zuwendung, eine Reaktion auf erlittene Demütigung. Ein Hilferuf der Machtlosen und Entrechteten…

Nein, meint Sorg da. Die Aggressionsforschung habe die Wirklichkeit aus dem Auge verloren. Als Beispiel zitiert er die bekannteste Studie auf diesem Feld. Der amerikanische Psychologe Stanley Milgram hatte in den 60er-Jahren seinen Testpersonen, zufällig ausgesuchten Geschäftsleuten von der Straße den Auftrag gegeben, andere mit zunächst milden, später schmerzhaften, schließlich lebensgefährlichen Elektroschocks zu bestrafen, wenn sie Fehler bei einer Rechenaufgabe machten – und hatte dabei festgestellt, dass allein die Autorität des Versuchsleiters in seinem weißen Kittel ausreichte, jeglichen Zweifel an der Quälerei beiseite zu wischen. Was folgerte Milgram? Der Mensch sei verflucht schnell bereit, sich unterzuordnen und die Verantwortung abzugeben. Falsch, meint Sorg:

"Eine näher liegende Erklärung ist, dass sein Konflikt ein anderer war: Der Geschäftsmann realisierte, dass er Gefallen fand an seiner Tätigkeit, an seiner Position am Stromhebel, am Schreien des ‚Schülers’. Er wusste, dass es verachtenswert war, aber erhörte trotzdem nicht auf. Nicht aus Angst vor der Unzufriedenheit des Versuchsleiters, sondern weil die Lust, den ‚Schüler’ zu bestrafen und zu dominieren, stärker war als seine Moral."

Gern wird das berühmt gewordene Experiment zitiert, um die "Banalität des Bösen" zu beweisen. Die Philosophin Hannah Arend hatte das Wort formuliert, nachdem sie den Prozess gegen Adolf Eichmann verfolgt und dabei beobachtet hatte, dass der Organisator des Holocaust eben kein grauenerregendes Monster war, sondern ein bedrückend banaler Mensch, ein Befehlsempfänger, der ohne Gewissen und Moral umsetzte, was andere ihm vorgaben. Zu klein, um ihn zu hassen, allenfalls groß genug, ihn zu verachten. Doch wieder warnt Sorg davor, die Verantwortung an der falschen Stelle zu suchen:

"Es stimmt, dass Eichmann ein unerträglich jämmerlicher Mensch war. Aber er war nicht das willenlose Rädchen, die beliebig einsetzbare Kreatur der Maschine, als die er sich darzustellen versuchte. Beide, Milgram und Arendt, gingen von einem zu passiven Konzept des Menschen aus. Sie bewerteten die Macht des äußeren Einflusses, des Befehls sehr hoch, und sie unterschätzten die aktive Rolle des Befehlsempfängers."

Zwei unvereinbare Positionen also? Vom Rausch der Macht und von aktiver Suche nach Befriedigung spricht Sorg – während der Naturwissenschaftler Bauer im Täter ein Oper der Verhältnisse sieht: Irgendwas war da, was den Gewalttäter erst zum Gewalttäter gemacht, was ihn krank gemacht hat. Joachim Bauer:

"Bei genauer Betrachtung halten die Milgram-Experimente also keineswegs, was sie im Dienste des Aggressionstriebes versprechen sollen, im Gegenteil. Sie zeigen, was auch zahllose neurowissenschaftliche Studien heute eindeutig belegen: Psychisch durchschnittlich gesunden Menschen, die nicht unter äußerem Druck stehen und die durch niemanden provoziert wurden, ist es zuwider, anderen Leid zuzufügen."

Krankhafte Störung auf der einen Seite, auf der anderen eine böse Lust, die nur auf Gelegenheit lauert. Zwischen den Positionen vermitteln könnte der Amerikaner Randall Collins mit seiner mikrosoziologischen Theorie "Dynamik der Gewalt". Seine detaillierten Studien und Beobachtungen erfassen Gewalt schon da, wo sie noch gar nicht als solche zu erkennen ist, wo sie in Form eines Rituals zelebriert wird oder sogar festen Spielregeln folgt. Im Sport zum Beispiel und überall da, wo nach mehr oder minder streng definiertem Kodex Rang und Bedeutung ausgehandelt werden: Zwei Geschäftspartner streiten sich, wer die Rechnung im Restaurant übernehmen darf. Ein Designer entwirft Autos, deren Kühlergrill er nach dem Gesicht einer Zähne fletschenden Raubkatze gestaltet. Ein Fußballspieler hat ein Tor geschossen und rennt nun über das Spielfeld, als wollte er die Spieler der gegnerischen Mannschaft mit Haut und Haaren auffressen. Oder ein Laudator zitiert Belege für die Größe und Bedeutung eines verdienten Mitbürgers; der wiederum nimmt Orden oder Urkunde entgegen und bedankt sich, indem er Größe und Bedeutung des Lobredners hervorhebt. Man prahlt nun mal nicht in der ersten Person. Auch das sind Spiele um Macht und Position.

Als Urgrund des in seinen Extremen perversen Spiels mit Macht und Gewalt erweist sich hier also nicht ein abstrakter Aggressionstrieb und auch nicht eine willkürlich festgelegte Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit, sondern eine Kultur, deren grundlegendes Funktionsprinzip darin liegt, Unterschiede auszuhandeln und aufrecht zu halten. Das Böse wäre demnach die logische, wesensverwandte Kehrseite von Hierarchie und Macht.

Joachim Bauer: Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt
Karl Blessing Verlag, Berlin 2011
288 Seiten, 18,95 Euro

Eugen Sorg: Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist Nagel & Kimche Verlag, München 2011
157 Seiten, 14,90 Euro

Randall Collins: Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie
Hamburger Edition / Institut für Sozialforschung, Hamburg 2011 736 Seiten, 39 Euro
Cover Joachim Bauer: "Schmerzgrenze"
Cover Joachim Bauer: "Schmerzgrenze"© Blessing Verlag
Cover Eugen Sorg: "Die Lust am Bösen"
Cover Eugen Sorg: "Die Lust am Bösen"© Verlag Nagel & Kimche
Cover Randall Collins: "Dynamik der Gewalt"
Cover Randall Collins: "Dynamik der Gewalt"© Hamburger Edition