Die junge Dichtkunst eines ganzen Subkontinents

Von Dirk Fuhrig · 03.11.2006
Sie sind jung, sprechen Spanisch oder Portugiesisch - und schreiben Gedichte. Und zurzeit sind sie in Deutschland unterwegs: Ein Dutzend Poetinnen und Poeten aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas, die fast nichts miteinander zu tun haben, außer eben dass sie moderne Reime verfassen. Eine Woche lang zieht die "Latinale" in einem Reisebus, ihrem Latino-Literatur-Mobil, quer durch Deutschland.
Lyrik macht mobil. Mit Wörtern und mit Klängen.

Rocío Cerón hat eines ihrer Gedichte von einer Sängerin zu einer Klanginstallation vertonen lassen. Die Autorin aus Mexiko-Stadt dichtet über die Sprache und über körperliche Berührungen.

Hierzulande kennt man die Namen der zwölf jungen Dichterinnen und Dichter, die mit dem "Latinale-Mobil", einem Reisebus, zwischen München, Berlin und Bonn unterwegs sind, noch kaum. Genau deshalb sind sie hier: Weil die poetische Kraft der Nachwuchs-Literatur aus dem südamerikanischen Subkontinent in Deutschland bekannter werden soll. Zum Beispiel die Verse des Argentiniers Fabián Casas, der über den Alltag und die Stimmung in seiner Heimatstadt Buenos Aires am Ende der Wirtschaftskrise schreibt. Und dabei noch humorvoll ist. "In Berlin nenne ich mich Kaspar Häuser", kalauert er in Anspielung auf seinen Nachnamen.

Das "Latinale-Mobil" bringt die Jung-Poeten durch ganz Deutschland. Der Bus ist bei dem Festival ...

"Vehikel und Metapher"

... sagt Rike Bolte, die diese Lyrik-Road-Show mitorganisiert hat.

"Wir haben nicht vor, die Lesung im Bus zu veranstalten. Wir fahren mit dem Bus vor, dann wir ausgestiegen und jeweils auf den Bühnen gelesen."

Rike Bolte und ihr Kollege, der Journalist und Übersetzer Timo Berger, sind selbst viele Monate - oft auch mit dem Überland-Bus - durch die Weiten Mittel- und Südamerikas von Lesung zu Lesung gereist, um schließlich genau diese zwölf Poeten und Poetinnen nach Deutschland einzuladen.

Berger: "Nur wenn man viele von ihnen holt, hat das auch Interesse für das Publikum. Wenn sie denken, an einem Abend können sie sechs von diesen Stimmen hören, sechs verschiedene Dichter mitnehmen. Vielleicht sind zwei oder drei dabei, die sie begeistern, wo sie dann auch mehr hören wollen und wo irgendwann mal ein Buch erscheint."

Um Ricardo Domeneck kennen zu lernen, mussten die Latinale-Macher nicht weit fahren. Der Brasilianer wurde 1977 in Sao Paulo geboren, lebt aber seit drei Jahren in Berlin. Er schreibt, macht verträumte Installationen und gibt ein Independent-Kunstmagazin heraus. Für die "Latinale" wurden zum ersten Mal mehrere Gedichte von ihm ins Deutsche übersetzt.

"Ich schreibe Lyrik und ich mach auch Videokunst. Bis jetzt sind irgendwie getrennt. Die Latinale ist eine Möglichkeit für mich, die zwei Aspekte zusammen zu bringen."

"Als ich zum ersten Mal in einer Lesung war, habe ich bemerkt, es machte keinen Sinn, einfach ein Buch zu öffnen und wie ein Audiobook zu sein, ein Lullabye für das Publikum."

Es ist sehr schwierig, die junge Dichtkunst eines ganzen Subkontinents auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu wollen. Da zeigt sich auch bei der "Latinale". Üppige Wort- und Klangkunstwerke stehen neben karger Großstadtlyrik. Raue Liebesgedichte neben politisch angehauchten Texten. Visuell orientierte Vortragskunst neben puristischer Lesung. Ein kleiner Ausschnitt dessen, was zwischen Rio Grande und Feuerland in Cafés, Galerien und auf Bühnen täglich zu hören ist.

Bolte: "Ohne jetzt in Stereotype fallen zu wollen nach dem Motto ‚in Südamerika ist man oraler, und deswegen wird da mehr Poesie betrieben und vorgetragen et cetera’ würde ich dennoch sagen, dass was ich dort erlebt habe an Lebendigkeit und an Menge von Publikum, extrem ist, überraschend lebendig."

... sagt Rike Berger. Allerdings sind die Südamerikaner noch stärker an klassischen Poesie-Präsentationsformen wie der strengen Lesung am Pult interessiert. Improvisation und spontane Dichter-Duelle, wie hierzulande bei den seit vielen Jahren so beliebten Slam-Poetry-Ereignissen üblich, sind dort noch eher die Ausnahme. Timo Berger, der bereits zweimal in Buenos Aires ein Poesiefestival organisiert hat, kennt auch die Ausnahmen:

"Es gibt in Buenos Aires auch eine Lesebühne, die heißt ‚maledita ginebra’, also ‚verfluchter Gin’, die fängt sehr spät nachts an, um ein Uhr nachts. Dort ist es so, dass die Leute vorgehen, was lesen und auch vom Publikum unterbrochen werden, wenn es nicht gut ist. Da fliegen auch mal Flaschen, wie auf nem Punk-Konzert. Und da ist das ganze Performative auch noch wichtiger. Das ist eher so ne Underground-Geschichte, das ist noch nicht so stark wie in Deutschland."

Flaschen flogen bislang noch nicht während der Deutschlandreise der fahrenden Dichter. Zumindest im Berliner Instituto Cervantes ging es eher brav und gesittet zu - Lesung eben. Manchmal mit Musik, wie bei Dani Umpi aus Uruguay. Denn der ist nicht nur Dichter. Sondern auch ein erfolgreicher Popmusiker.