Die inszenierte Meinung

Von Heribert Seifert · 13.02.2008
Glaubt man einigen journalistischen Zeitdeutern, dann befinden wir uns mitten in einer dramatischen Zeitenwende auf dem Medienmarkt. Auf dem Spiel stehe, so heißt es in alarmistischen Pamphleten, das Überleben des Qualitätsjournalismus, der die Mächtigen kontrolliert und in der Gesellschaft das vernünftige Gespräch über die zentralen Probleme in Gang hält.
Der Gegner, der hier mit starken kulturpessimistischen Gesten gebannt werden soll, ist das Internet. Seine Sprache sei roh, seine Bilderwelt "ikonographischer Extremismus", der einer "Körperverletzung" gleichkomme und die jungen Menschen, die sich seit ihrer Geburt diesem Medium hingeben, zu sekundären Analphabeten mache. Verantwortungslose Geschäftemacher, die mit Pornographie und anderem Unrat ihr Geld verdienen wollen, träfen sich im Netz mit Egomanen, die die ganze Welt zum Publikum ihrer peinlichen Selbstentblößung machen. Die Fähigkeit, sich per Mausklick am Geschwätz in einem Chatroom zu beteiligen oder einen infamen Leserkommentar auf die Interseiten der Zeitungen und Magazine zu setzen, habe nichts mit verantwortungsvoller Teilnahme an der Bildung der öffentlichen Meinung zu tun, so heißt es bei den erbitterten Feinden der chaotischen Netzwelten.

Auf den ersten Blick möchte man den besorgten Internetkritikern zustimmen. All das, was sie an Unerfreulichem, Abstoßendem und auch Kriminellem erwähnen, gibt es im weltweiten Netz, in Nischen und oft auch erschreckend einfach zu finden. Aber ist das wirklich schon ein Angriff auf die Grundlagen abendländischer Kultur und Gesittung, wie es kürzlich in einem renommierten Feuilleton hieß? Liegen nicht auch in jedem Bahnhofskiosk Blätter nebeneinander, die sich in ihrer kulturellen und moralischen Qualität fundamental unterscheiden? Verletzt Deutschlands größtes Massenblatt nicht mit Kalkül immer wieder nicht bloß die professionellen Standards, sondern auch elementare Regeln des Anstands? Offenbar haben die schreibenden Kollegen, die sich derzeit so mühen, das Internet zum großen gesellschaftlichen Gesamtschuldner zu erklären, einen blinden Fleck in ihrer Wahrnehmung, der sie überscharf jeden Dreck im neuen Medium sehen lässt, während der desolate Zustand alter Medien ausgeblendet bleibt.

Man braucht dabei gar nicht nur an die wüste Boulevardpresse zu denken, sondern muss sich nur erinnern, welcher Wandel sich in den letzten Jahren auch in der Berichterstattung jener Zeitungen vollzog, die sich jetzt als Leitmedien des Qualitätsjournalismus in Szene setzen möchten. Da wurde ein Roman Martin Walsers mit den fadenscheinigsten Gründen für antisemitisch erklärt, um ein paar Wochen die Diskurshoheit auf dem Jahrmarkt der Feuilleton-Eitelkeiten zu erreichen. Wo es beim Zeitungsmachen vor allem um "inszenatorisches Denken" ankommt, das die Ereignisse der als Berichterstattung getarnten Empörungs- und Krawallkommunikation selber schafft, da haben längst Prinzipien des Sensationsjournalismus im hochfeinen Feuilleton Einzug gehalten. Sie werden dort auch offen gerechtfertigt: "Manche Themen haben erst dann eine Chance, sachgemäß debattiert zu werden, wenn ein boulevardesker Zungenschlag einkehrt", liest man in der Zeitung, deren Herausgeber gegen die Bedrohung journalistischer Sitten zu Felde zieht. Entsprechend sehen die sogenannten Feuilletondebatten auch aus, die das Land periodisch erschüttern.

Das aktuelle Getöse gegen das Böse, das aus dem Internet kommt, ist verlogen. Den Lautsprechern dieses Feldzugs geht es in Wirklichkeit darum, auf einem Medienmarkt, in dem ihre Zeitungen immer mehr an Glaubwürdigkeit und Aufmerksamkeit auch durch eigenes Versagen verloren haben, die alte Autorität, ihr Monopol auf Information und Deutung wieder herzustellen. Sie träumen öffentlich davon, dass ihre Blätter den Menschen wieder verbindlich sagen, was in der Welt geschehen ist und was sie davon zu halten haben. Sie wollen nicht wahrhaben, dass ein immer noch wachsender Teil des Publikums keine Lust mehr hat auf die Inszenierungen publizistischer Meisterdenker. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass mit dem Internet die Grenzen der Öffentlichkeit neu gezogen worden sind und dass mehr Menschen Zutritt dazu haben, darunter auch solche, die manchmal mit ungewaschenem Maul reden. Um damit fertig zu werden, reichen die bestehenden Gesetze und die selbstkritische Aufmerksamkeit in den neuen Kommunikationsgemeinschaften schon aus. Anmaßende Vormünder dagegen, die von "Qualität" reden, aber eigene Macht meinen, sind überflüssig.

Heribert Seifert, geboren 1948 in Dorsten/Westfalen. Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft in Münster, Berlin und Zürich. Danach Lehrer am Gymnasium in Recklinghausen, seit 1980 Lehrerausbilder an Studienseminar und Universität. Herausgeber von Schulbüchern, Autor von "Lehren und Lernen in der Schule", Köln 2000. Ständiger Mitarbeiter der "Neuen Zürcher Zeitung", Beiträge für die epd medien, du-Zeitschrift für Kultur, novo.