Die Ideologie des Neoliberalismus

14.09.2013
Paul Verhaeghe beschreibt in seinem Buch "Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft", dass Leistungsstreben, Individualismus und Jugendkult dem Wunsch nach Gemeinschaft und Solidarität entgegenwirken. Seine Lösung: Dringend sei eine kritische, liberale Bewegung nötig, die an die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen anknüpfe.
Das Handbuch der Psychiatrie – das Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders (DSM) – nimmt zuverlässig mit jeder neuen Auflage an Umfang zu. Das Standardwerk, das weltweit Einfluss darauf hat, wer als psychisch krank gilt, zählte Ende der 1960er Jahre noch 180 Diagnosen. Inzwischen hat sich die Zahl verdreifacht. Für den belgischen Psychologen Paul Verhaeghe ist dies ein Indiz dafür, dass die neoliberale Ordnung Menschen krank macht – und zwar im doppelten Sinne. Zum einen würde man immer häufiger aufgrund von kleinsten Symptomen für krank erklärt. Zum anderen aber führe unser Gesellschaftssystem tatsächlich dazu, dass sich die Menschen in wachsendem Maße krank fühlen.

Wie also prägt die Ökonomie unsere Identität und unser Zusammenleben, fragt der Genter Universitätsprofessor in den Mittelpunkt seiner aufrüttelnden Analyse. Als Ausgangspunkt nimmt er aktuelle Identitätsdebatten in Europa und die allgemeine Sorge über die Verrohung der Gesellschaft. Viel zu wenig, so seine Kritik, werde hier berücksichtigt, wie sehr Identität - also was ein Mensch fühlt und über sich denkt - ein Spiegelbild dessen ist, was die Umwelt an ihn heranträgt.

In einem spannenden historischen Diskurs ruft er in Erinnerung, wie sich das Verständnis davon, was man über sich denken soll, seit Aristoteles verändert hat. Letzterer postulierte noch, dass der Mensch – anknüpfend an seine inneren Bedürfnisse – zusammen mit der Gemeinschaft seine Identität entwickelt. Mit dem Entstehen der christlichen Ethik jedoch werden Werte nur noch von außen vorgegeben, von Gott und seinen Stellvertretern. "Selbstverwirklichung weicht der Selbstverleugnung", fasst Paul Verhaeghe diesen Paradigmenwechsel zusammen, der aus seiner Sicht im Neoliberalismus seinen vorläufigen Höhepunkt findet.

Überzeugend entlarvt Verhaeghe die Ideologie des Neoliberalismus als unmenschlich und irreführend: Wissenschaft und Wirtschaft propagieren, dass jeder Mensch sich selbst immer wieder neu erschaffen könne, wenn er sich nur richtig Mühe gebe. Anhand von Studien beweist der Autor, dass Werte wie Leistungsstreben, Individualismus, Jugendkult und permanente Selbstoptimierung jedoch dem menschlichen Bedürfnis nach Gemeinschaft und Solidarität entgegenwirken – ja am Ende sogar zur Auflösung der Gesellschaft führen.

Auch das Grundprinzip des Neoliberalismus, die Meritokratie, die Erfolg allein quantitativ misst, kritisiert der Psychologe mit Blick auf Gesundheitsweisen und Bildungsbereich scharf. Statt zu Effektivität und Objektivität habe dieses Denken zu Kontrollwahn, Bürokratie und Abnahme der Qualität geführt, wie er an verschiedenen Beispielen deutlich macht.

Für Paul Verhaeghe gibt es nur einen Ausweg: Dringend nötig sei eine kritische, liberale Bewegung, die an die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen anknüpfe und die Lebensqualität ins Zentrum rücke. Eine wichtige und realistische Forderung, der in einem ersten Schritt jeder gerecht werden kann. Schlicht – so Verhaeghe – durch die Änderung der eigenen Lebensweise.
Besprochen von Vera Linß

Paul Verhaeghe: Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann und Angela Wicharz-Lindner
Verlag Antje Kunstmann, München 2013
252 Seiten, 19,95 Euro