"Die Hauptsprache, die gelernt werden muss, ist Deutsch"

Im Gespräch mit Christel Blanke und Matthias Thiel · 16.02.2008
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Annegret Kramp-Karrenbauer, hat sich für mehr deutsch-türkischen Sprachunterricht an den Schulen ausgesprochen. Es sei ein guter Ansatz, türkischen Kindern die Möglichkeit zu geben, beide Sprachen zu lernen, sagte Kramp-Karrenbauer. Der Grundsatz, dass nur der, der seine Muttersprache beherrsche, gut eine Fremdsprache erlernen könne, sei richtig, betonte die CDU-Politikerin.
Deutschlandradio Kultur: Sie waren in dieser Woche in Berlin. Waren Sie auch auf den Filmfestspielen?

Annegret Kramp-Karrenbauer: Ich bin kurz über den Potsdamer Platz gegangen, aber hatte leider keine Möglichkeit, mir den einen oder anderen Film anzuschauen. Insofern habe ich nur mal ganz kurz an der Festivalatmosphäre geschnuppert.

Deutschlandradio Kultur: Aber über den roten Teppich wären Sie sicherlich gerne gegangen. Mit wem wären Sie denn am liebsten darüber gegangen? Zum Beispiel mit Mick Jagger oder mit Ben Kingsley?

Kramp-Karrenbauer: Wenn ich zwischen beiden wählen dürfte, dann würde ich mich eher für Ben Kingsley entscheiden. Aber es gibt auch den einen oder anderen deutschen Schauspieler, mit dem ich mir das gut vorstellen könnte.

Deutschlandradio Kultur: Zum Beispiel?

Kramp-Karrenbauer: Zum Beispiel Till Schweiger.

Deutschlandradio Kultur: Warum?

Kramp-Karrenbauer: Weil ich den neuen Film von ihm, "Keinohrhasen", wirklich genial finde.

Deutschlandradio Kultur: Filmförderung in Deutschland hieß 2007 308 Mio. Euro aus diversen Töpfen, u.a. von Bund und Ländern. Kritiker klagen, dass die Länder Filmförderung gerne als Standortpolitik betreiben, was dann dazu führt zum Beispiel, dass eine Szene, die in Bremen spielt, in Hamburg aufgenommen wird. Wäre es nicht besser einen großen Topf zu bilden und daraus zu verteilen?

Kramp-Karrenbauer: Das ist eine generelle Frage der föderalen Struktur in Deutschland. Diejenigen, die das kritisieren, müssen natürlich auch feststellen, dass mittlerweile ein Großteil oder der größere Teil der Filmförderung aus den Ländern kommt. Wir haben auch in anderen Bereichen, etwa bei der Sportförderung, durchaus eine Arbeitsteilung zwischen dem Bund und den Ländern. Ich glaube, vom Grundsatz her ist die Struktur in Ordnung. Man muss es aber schaffen, dass beide Fördertöpfe miteinander kombiniert sind, dass man kumulieren kann, dass man sich in Förderrichtlinien abspricht. Ich glaube, das geschieht auch schon.

Deutschlandradio Kultur: Im hessischen Wahlkampf spielte die Bildungspolitik eine sehr große Rolle. Das Gleiche gilt jetzt für Hamburg, wo demnächst gewählt wird. Was passiert danach? Können Sie Kapital schlagen aus dieser Diskussion, die jetzt stattfindet?

Kramp-Karrenbauer: Kapital schlagen insofern als die Bildungspolitik in ihrer Bedeutung und auch in ihrer Wahrnehmung als ein sehr wichtiges Thema für die Bürgerinnen und Bürger stärker in den Mittelpunkt rückt. Das heißt, man hat oft – ähnlich wie bei der Familienpolitik – damit zu kämpfen, dass es ein Politikfeld ist, das gerne an den Rand gedrängt wird und für das man eigentlich immer nur dann Aufmerksamkeit bekommt und damit auch die notwendigen Mittel, die man braucht, um sie umsetzen zu können, wenn klar ist, es geht ein ganz gewichtiges politisches Gewicht von ihr aus. Insofern, glaube ich, ist das einer der Vorteile, der im Moment schon den Blick auch des einen oder anderen Ministerpräsidenten auf dieses Themenfeld sehr verändert und geweitet hat.

Deutschlandradio Kultur: Werden wir aber in drei Wochen diese Schlagzeilen auch noch haben? Wird darüber dann auch noch in diesem Land geredet?

Kramp-Karrenbauer: Vielleicht nicht in der zum Teil auch Hysterie, wie im Moment über G8 debattiert wird. Aber ich glaube, in dem Bewusstsein insbesondere bei den Bürgerinnen und Bürgern, dass Bildungspolitik eines der politischen Themenfelder ist, das sie von der Rangordnung her ganz oben ansetzen, und in einer Definition, dass Bildungspolitik ein ganz zentraler Schlüsselbegriff in der gesamten Gerechtigkeitsdebatte ist, die wir zur Zeit führen, dass das ein längerfristiger Effekt sein wird.

Deutschlandradio Kultur: "G8" meint in diesem Fall nicht die großen Wirtschaftsstaaten, sondern das Abitur nach zwölf Jahren. Das schieben wir zunächst noch mal ein Stück nach hinten, Frau Kramp-Karrenbauer. Die Kultusministerkonferenz, deren Präsidentin Sie sind, hat sich vorgenommen, die Zahl der Schulabbrecher zu halbieren. Wie wollen Sie das machen?

Kramp-Karrenbauer: Es gibt hier eine Vereinbarung, eine Liste von diversen Vorschlägen, die aus der praktischen Erfahrung und dem Handling der einzelnen Länder mit entstanden sind. Es geht darum, dass wir mit dem richtigen pädagogischen Ansatz an die Gruppe der besonders schwierig zu händelnden Schülerinnen und Schüler herankommen. Dieser pädagogische Ansatz besteht in einer sehr intensiven persönlichen Förderung, in einer sehr starken Praxisorientierung. Es sind zum Teil auch Ausflüsse aus praktischen Erfahrungen, die man mit Programmen in den einzelnen Ländern gemacht hat. Die sind jetzt in einem Gesamtprogramm, einem Gesamtvorschlag zusammengetragen worden. Alle Länder haben sich noch mal darauf verständigt, dass das das große Ziel ist, hier die Anstrengungen noch mal zu intensivieren.

Deutschlandradio Kultur: Das bedarf aber einer umfangreicheren Betreuung dieser Schüler. Woher nehmen Sie das Geld? Nehmen Sie da frisches Kapital in die Hand und pumpen zusätzliche Mittel in diesen Bereich?

Kramp-Karrenbauer: Man muss frisches Geld in die Hand nehmen. Letztendlich, wenn man es gesamtstaatlich betrachtet, ist es eine Nullsummenrechnung. Denn das, was wir im Bereich etwa der originären Schulausbildung nicht in die Hand nehmen, müssen wir später in die Reparatur stecken, also zum Beispiel in Kurse, bei denen der Hauptschulabschluss nachgeholt werden kann, bzw. in Jugendhilfearbeit oder Jugendhilfeeinrichtung. Das ist ein anderer Finanzier. Das sind die Kreise, das sind die Städte. Aber wenn man alle Finanzsummen zusammennimmt, dann ist es aus meiner Sicht besser, das Geld früher in die Hand zu nehmen und im Schulsystem zu investieren, als nachher in die Reparatur zu stecken.

Deutschlandradio Kultur: Ja, aber woher soll es kommen? Wird Ihr Ministerpräsident oder Ihr Finanzminister in Saarbrücken im nächsten Etatansatz mehr Geld dafür zur Verfügung stellen?

Kramp-Karrenbauer: Das hat er schon getan. Wir haben einen besonderen pädagogischen Ansatz, zunächst einmal in einigen Schulen, wo wir mit dieser Klientel sozusagen ein pädagogisches Team zur Verfügung stellen, bestehend aus Lehrern und Sozialarbeitern, die von der Klassenstufe 7 bis zur Klassenstufe 9 vollkommene pädagogische Freiheit haben. Die haben nur ein Ziel: Die Schüler müssen die zentrale Hauptschulabschlussprüfung nach der 9. Klasse schaffen. Wie sie dieses Ziel erreichen, ist ihnen vollkommen freigestellt. Das ist ein Mehraufwand. Das ist ein Mehr an Personalkosten, aber der Finanzminister im Saarland hat das zur Verfügung gestellt. Das ist auch nach meiner Erkenntnis eine Haltung, die in vielen anderen Ländern mittlerweile auch eingenommen wird.

Deutschlandradio Kultur: Eines Ihrer persönlichen Schwerpunktthemen ist die frühkindliche Bildung. Wie soll das aussehen? Sollen Kinder schon mit zwei Jahren Englisch lernen?

Kramp-Karrenbauer: Nein. Auch hier muss man feststellen, dass sich ja Debatten massiv verändert haben. Ich kann mich noch an 1999 erinnern, als es etwa im Saarland darum ging, die Zuständigkeiten für den Kindergarten in das Bildungsministerium zu verlagern. Es gab eine heftige Debatte darüber, ob jetzt alle Kindergartenkinder schon geschult werden sollen. Mittlerweile sprechen wir über Bildungsprogramme im Krippenbereich. Also, ich glaube, man muss hier mit einer gewissen Gelassenheit und auch einem stückweit gesunden Menschenverstand die Dinge angehen. Es geht nicht darum, dass Kinder mit zwei Jahren schon unbedingt und systematisch eine Fremdsprache lernen. Aber alle Forschungsergebnisse sagen, dass gerade in diesem frühen Alter die Fähigkeit und der Korridor, neue Dinge aufzunehmen, etwas zu lernen, sehr groß ist. Wir haben in der Vergangenheit das Problem gehabt, dass die Kindertagesstätten in Deutschland immer zu allererst unter dem Aspekt der Betreuung gesehen worden sind. Eigentlich hat man sich erst in den letzten Jahren massiv mit dem Gedanken der Bildung auseinandergesetzt. Deswegen sind wir heute auf dem Stand, dass in allen Bundesländern Bildungspläne etwa für die Kindergärten existieren. Aber das ist jetzt sozusagen eine Grundlage und auf dieser Grundlage muss weiter gearbeitet werden, etwa mit Blick auf die Qualitätskontrolle oder etwa mit Blick darauf, wie wir Kindertageseinrichtungen, insbesondere im Übergang zur Grundschule, besser miteinander verschränken und besser miteinander verknüpfen.

Deutschlandradio Kultur: Der türkische Ministerpräsident Erdogan hat türkische Schulen und Universitäten in Deutschland gefordert. In Ihrer Partei, der CDU, ist das auf Widerstand vor allem gestoßen. Es gibt aber jemanden, Ihren Berliner Parteifreund Friedbert Pflüger, der kann sich zumindest eine deutsch-türkische Privatuniversität vorstellen. Wie weit würden Sie gehen?

Kramp-Karrenbauer: Das ist ein Thema, das man sehr differenziert betrachten muss. Wo ich im Moment das Problem sehe, dass insbesondere in dem Umfeld, in dem diese Forderungen erhoben worden sind, insbesondere auch mit dem Warnhinweis der angeblichen Assimilierung, diese Forderung leider in ein vollkommen falsches Fahrwasser gedrängt worden ist. Sie hat nämlich den Charakter erhalten oder ist so wahrgenommen worden, dass es hauptsächlich darum geht, wie der Deutsche Städte- und Gemeindetag das formuliert hat, Sprachinseln zu bilden und insofern weniger zur Integration beizutragen als zu einer gewissen Abgrenzung.

Ich komme ja aus einem Bundesland, das eine zweisprachige Erfahrung auch hat. Bei uns gibt es zum Beispiel ein deutsch-französisches Gymnasium. Aber der Ansatz dieses Gymnasiums setzt genau darauf an, dass die Schülerinnen und Schüler beide Sprachen lernen. Wenn das der Ansatz ist, auch mit Türkisch als Unterrichtssprache, mit türkischen Einrichtungen, dann ist das ein Ansatz, den man durchaus verfolgen kann.

Deutschlandradio Kultur: Also brauchen wir mehr türkische Lehrer?

Kramp-Karrenbauer: Es ist heute schon so, für das Saarland kann ich das sagen, dass wir dort, wo wir auch eine größere Anzahl von türkischen Kindern in der Schule haben, durchaus vom türkischen Staat zur Verfügung gestellte Lehrkräfte haben, die eingesetzt werden, um die Kinder auch in ihrer Muttersprache zu unterstützen. Aber ganz klar ist, die erste und die Hauptsprache, die gelernt werden muss, ist Deutsch. Ich glaube, daran führt überhaupt kein Weg vorbei.

Deutschlandradio Kultur: Ist den der Grundsatz falsch, zu sagen, nur wer die Muttersprache richtig beherrscht, kann auch gut eine zweite Sprache erlernen?

Kramp-Karrenbauer: Ich glaube, dass dieser Grundsatz richtig ist. Auch das ist ja etwas, was wissenschaftlich durchaus umstritten war in den vergangenen Jahren und wo es immer wieder Ausschläge in die eine oder andere Richtung gab, ich glaube, dass es wichtig ist, dass die Kinder ihre Muttersprache beherrschen. Das ist in allererster Linie natürlich auch Arbeit und Aufgabe des Elternhauses selbst. Das sollte auch durchaus unterstützt werden mit Hilfe des türkischen Staates, entweder innerhalb der Schule oder auch durch Kurse außerhalb der Schule. Aber genauso klar muss sein: Es muss dann in einem relativ frühen Alter auch die deutsche Sprache hinzutreten. Wenn man auch deutlich macht, dass die türkische Muttersprache kein Handicap ist, sondern, wenn das Deutsche richtig dazu tritt, dass das per se ein Vorteil ist, weil die Kinder zweisprachig sind, ich glaube, wenn man diesen Blick drauf wirft, dann kann man das auch etwas entspannter diskutieren als in dem Umfeld, wie die Debatte jetzt in den vergangenen Tagen stattgefunden hat.

Deutschlandradio Kultur: Frau Kamp-Karrenbauer, in der Diskussion ist auch die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems. Rheinland-Pfalz, Hamburg, aber auch Schleswig-Holstein fusionieren inzwischen Haupt- und Realschulen. Im Saarland ist die Hauptschule ja schon vor Jahren abgeschafft worden. Welche Erfahrungen haben Sie als Kultusministerin im Saarland damit gemacht?

Kramp-Karrenbauer: Ich glaube, dass diese Debatte, ob wir die Hauptschule abschaffen, ja oder nein, eine relativ fruchtlose Debatte ist und eine, die in die Vergangenheit gerichtet ist. Denn alle Erfahrungen, auch im Saarland, wo ja dieser Schritt in einem Schulkompromiss in den 90er Jahren gegangen worden ist, belegen, dass der Typus des Hauptschülers keinesfalls verschwunden ist. Der ist nach wie vor vorhanden. Darum geht es, dass man diesem Typus mit dem richtigen pädagogischen Ansatz begegnet. Das Interessante in der Diskussion über die Bundesländer ist, dass sich dieser pädagogische Ansatz durchaus ähnelt, und zwar egal, ob er in einer Gemeinschaftsschule á la Schleswig-Holstein oder in einer Hauptschule á la Bayern gewählt wird. Das ist für mich das Entscheidende. Deswegen halte ich die Schulstrukturdebatte für rückwärts gewandt und eigentlich auch für ein Themenfeld, bei dem man die Energie besser auf andere Themen konzentrieren würde.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja für mehr Durchlässigkeit im Schulsystem. Heißt das, Sie sind doch letztendlich wieder für die Gesamtschule?

Kramp-Karrenbauer: Nein, ich glaube, dass die Gesamtschule einen ganz eigenen Ansatz hat, auch insbesondere diesen integrativen Charakter, und dass das, was wir zum Beispiel im Saarland in den erweiterten Realschulen tun, zwar eine gemeinsame Unterrichtung mit Binnendifferenzierung in den Klassen 5 und 6 darstellt, aber danach relativ deutlich die Schülerinnen und Schüler auch trennt. Für was ich mich sehr massiv einsetze, ist, dass es aus den jeweiligen Bildungsgängen heraus immer möglich sein muss, mit einem entsprechend guten Abschluss auch noch mal problemlos in den anderen Zweig wechseln zu können. Ich glaube auch, dass – wenn man auf der einen Seite sagt, wir wollen nach der Klassenstufe 4 die Kinder so aufteilen, wie das in Deutschland der Fall ist – dann die Kehrseite der Medaille ist, dass man auch über das gesamte Schulsystem wirklich eine Durchlässigkeit verschafft. Denn das nimmt auch einen massiven Druck aus dieser Entscheidung nach dem 4. Schuljahr, welche Schule mein Kind nun besuchen soll, wenn man weiß, das ist keine Entscheidung für die Ewigkeit, sondern es gibt in Deutschland insgesamt 60 Bildungsgänge, die zur Hochschulreife führen. Eines davon ist das klassische Abitur. Über die 59 anderen spricht eigentlich keiner, aber es sind ganz faktische Bildungsgänge und Möglichkeiten, die Kinder haben.

Deutschlandradio Kultur: Aber da klagt nun die Wirtschaft darüber, dass die Berufsanfänger viel zu alt sind in Deutschland. Das Allheilmittel sollte dann G8 sein, das Abitur nach zwölf Jahren. Der Preis für die Verkürzung ist aber, dass Lehrer, Eltern, Schüler jetzt klagen, keine Zeit mehr am Nachmittag für Klavierspielen oder für den Sport. War das nicht eigentlich voraussehbar für Sie als Bildungspolitikerin, dass das so kommen muss, wenn man in immer kürzerer Zeit immer sehr viel mehr lernen muss?

Kramp-Karrenbauer: Wir haben zum einen G8 eingeführt. Als Saarländische Ministerin kann ich sagen, dass wir ja das Bundesland waren, das als erstes in Westdeutschland diesen Schritt gegangen ist, insofern jetzt auch schon die größten Erfahrungen mit G8 gesammelt haben. Was das Ganze natürlich am Anfang erschwert hat oder immer noch erschwert, sind die Rahmenbedingungen, die in der KMK von den Stundenzahlen her gesetzt worden sind, weil sich das auf die neuen Verhältnisse noch konzentriert hatte.

Trotzdem, muss man sagen, ist der grundsätzliche Schritt zu G8 richtig gewesen, weil das einfach internationaler Standard ist und auch was mit internationaler Konkurrenzfähigkeit zu tun hat. Die Debatten, die jetzt laufen, betreffen zum einen die Stofffülle, die Lehrpläne. Wobei es aus meiner Sicht zum Teil auch Diskussionen aufgreift, die es vorher auch beim G9 schon gab, die jetzt aber noch mal massiv virulent geworden sind über die Frage: Sind unsere Lehrpläne eigentlich gestrickt, sind sie zu faktenlastig? Müssten sie in dem Punkt, wie es immer so schön heißt, "entrümpelt" werden? Und es geht auch um die Frage der Taktung. Es ist so, dass durch die Verdichtung des Unterrichtes und dadurch, dass auch in keinem Bundesland ernsthaft der Samstag als zusätzlicher Unterrichtstag noch mal in Erwägung gezogen wird, natürlich mehr Stunden am Tag anfallen. Das heißt Unterricht in den Nachmittag hinein, ohne dass die Schule in einem klassischen Sinne Ganztagsschule geworden ist. Wobei meine Erfahrung ist, auch hier wieder aus dem Saarland, wo wir diese Entscheidung den Eltern und den Schulkonferenzen wirklich freigestellt haben, dass insbesondere in der Elternschaft dieser Punkt heiß umstritten ist. Sie haben ungefähr zwei gleich große Lager, eines, das sich sehr für einen Ganztagsunterricht ausspricht, und eines, das am liebsten wieder zur Halbtagsschule zurückkehren möchte.

Deutschlandradio Kultur: Nun ist es aber im Grunde die Einführung des Ganztagsunterrichtes, ohne dass Konzepte da sind für Ganztagsschulen. Sind die Kultusminister da nicht auf halber Strecke stecken geblieben?

Kramp-Karrenbauer: Man hat an vielen Schulen – ich glaube, mittlerweile gibt es in der Hälfte der Bundesländer flächendeckend auch die entsprechenden Infrastrukturen an den Gymnasien, fürs Saarland kann ich das flächendeckend auch bestätigen – die Voraussetzungen geschaffen. Es gibt, soweit ich weiß, überall in zumindest freiwilliger oder halbgebundener Form auch Ganztagsangebote. Aber es ist nicht so gewesen, dass die Kultusministerkonferenz oder die einzelnen Bundesländer verpflichtend Ganztagsschulen eingeführt hätten. Das liegt aus meiner Sicht auch daran, dass dies ein Weg ist, der von den Eltern nur zum Teil mitgetragen wird. Und es ist natürlich auch ein Weg, den man nicht von heute auf morgen beschreiten kann, weil das natürlich auch massive Umgestaltungen in den Schulen vor Ort mit erfordert.

Deutschlandradio Kultur: Aber diese Strukturen fehlen ja noch, gerade für den Ganztagsunterricht, dass man Kantinen schafft und ähnliches. Warum hat man da diesen zweiten Schritt nicht auch gemacht?

Kramp-Karrenbauer: Zum Teil fehlen sie. Ich habe ja gerade gesagt, die Länder sind in einem sehr unterschiedlichen Prozess oder Stadium, was G8 anbelangt. Im Saarland haben wir – bis auf drei Gymnasien – an allen Schulen die entsprechenden Infrastruktureinrichtungen. In anderen Ländern ist das zum Teil auch der Fall. Also, die Einrichtungen sind jetzt da, müssen auch gemeinsam mit dem Schulträger entwickelt werden. Mein Eindruck ist, dass es eine zunehmende Zahl auch in der Elternschaft gibt, die einen Ganztagsunterricht wollen. Denn wir sehen jetzt zum Beispiel auch an dem Vorschlag von Günter Oettinger, was die Hausaufgaben anbelangt, dass das ja gerade eine der Schnittstellen betrifft, wo man feststellen muss, dass es sozusagen keine vernünftige Verzahnung gibt zwischen dem, was in der Schule gearbeitet wird, und dem, was dann zu Hause noch nachgearbeitet werden muss. Das steht ziemlich beziehungslos nebeneinander. Insofern, glaube ich, wird man da auch eine Diskussion darüber führen müssen, wie Teile etwa der Hausaufgaben in die Schule hinein verlagert werden können.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben es schon angesprochen. Einige fordern die Entrümpelung des Lehrplans. Da soll was raus – vielleicht nicht ganz so viel Chemie, vielleicht nicht ganz so viel Mittelaltergeschichte oder was auch immer man sich da vorstellen kann. Fallen deutsche Abiturienten künftig durch Oberflächenwissen auf?

Kramp-Karrenbauer: Nein, das glaube ich nicht. Ich halte auch nichts davon, jetzt zu sagen, wir müssen an dem einen oder anderen Fach dann die Stunden kürzen. Ich habe das auch ganz deutlich mit Blick auf die Naturwissenschaften gesagt, weil das eigentlich kontraproduktiv ist. Wir wissen, dass wir im Moment gerade im Bereich der Naturwissenschaften, der Ingenieurswissenschaften Nachwuchsmangel haben. Ich glaube nicht, dass es um Oberflächenwissen geht. Die Frage, die sich bei den Lehrplänen stellt, ist die Frage: Was vermitteln wir in diesen Lehrplänen? Was heißt für uns eigentlich ein gut ausgebildeter und gebildeter Abiturient? Ist das jemand, der – ich nenne mal ein Beispiel – mit Blick auf das Deutsche Kaiserreich über ein möglichst umfangreiches Detailwissen verfügt? Ist das jemand, der in der gymnasialen Oberstufe schon einen Themenkomplex behandelt, den er dann spätestens im dritten Semester an der Universität im Pro-Seminar wieder aufgreifen kann? Oder ist das jemand, der lernt in Zusammenhängen zu denken, sie kritisch zu bewerten, eigenständig sich ein Bild machen zu können? Das ist eigentlich mein Verständnis von dem, was Bildung bringen müsste.

Deutschlandradio Kultur: Aber bleibt dafür dann noch Zeit?

Kramp-Karrenbauer: Es bleibt dann Zeit, wenn man wirklich die Lehrpläne sich anschaut und feststellen kann, das muss man wirklich genau untersuchen, ob wir dieses zu starke Faktenwissen haben, diese Fokussierung auf dieses Faktenwissen. Es ist zumindest eine der Rückmeldungen, die wir aus den Schulen erhalten, von Eltern, aber auch von Lehrern. Wenn man sich das vergegenwärtigt und dann sagt, o.k., in einer Zeit, in der sich das Wissen auch immer schneller ändert, da muss man auch bereit sein, solches Faktenwissen sozusagen weg zu streichen, aber dafür die anderen Bildungstechniken stärker in den Vordergrund zu stellen. Wobei sich mir eine Frage stellt, und die ist noch nicht hinreichend beantwortet, inwieweit das Problem wirklich an den Lehrplänen liegt oder inwieweit es auch an der Umsetzung oder der Arbeit der Kolleginnen und Kollegen vor Ort mit diesen Lehrplänen liegt. Da streiten sich die Geister noch.

Deutschlandradio Kultur: Das Abitur nach zwölf Jahren wird in den nächsten Jahren dazu führen, dass wir erst einmal vorübergehend ein paar Jahre lang zwei Abiturjahrgänge jedes Jahr haben. Besteht da nicht die Gefahr, dass die G8-Abgänger dieses Jahr dann letztendlich wieder verlieren, weil sie keinen Ausbildungs- oder Studienplatz bekommen?

Kramp-Karrenbauer: Das sehe ich nicht so. Zum einen, was die Universitäten und die zusätzlichen Studienkapazitäten anbelangt, gibt es ja die Vereinbarung. Im Hochschulpakt haben sich Bund und Länder ja verpflichtet, entsprechende zusätzliche Studienplätze zu schaffen. Wir sind – jedes Bundesland in dem Stadium, wie es sich anbietet – im Gespräch mit den Wirtschaftsverbänden, was die Zahl der Ausbildungsplätze anbelangt. Wir werden jetzt in diesem Frühjahr auch noch mal ein turnusmäßiges Gespräch der Kultusministerkonferenz, des Bundeswirtschaftsministeriums mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft haben. Auch da habe ich darum gebeten, dass dieses Thema noch mal auf die Tagesordnung gesetzt wird. Also, wir werden eine Ausweitung der Kapazitäten dort haben müssen.

Im Übrigen habe ich das G8 auch deshalb als Vorteil empfunden, weil man ja ein Jahr spart als Schülerin und Schüler und weil man dann aus meiner Sicht auch durchaus die Möglichkeit hat, dieses Jahr etwa für einen Auslandsaufenthalt zu nutzen, oder auch dafür, besser für sich selbst herauszufinden, und zwar an der praktischen Lebenserfahrung herauszufinden, in welche Richtung man dann auch sein zukünftiges berufliches Leben gestalten möchte. Insofern wäre das für mich, selbst wenn jemand nicht direkt in ein Studium oder in einen Ausbildungsplatz geht, nicht unbedingt ein verlorenes Jahr.

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem Sie mehr Plätze schaffen wollen, bleibt die Studienquote in Deutschland immer noch relativ gering im Vergleich zu anderen Ländern. Wir liegen bei 30 Prozent Studenten. Was wollen Sie dagegen tun?

Kramp-Karrenbauer: Das ist auch eine Frage der Definition. Wir haben ein System in der dualen, in der beruflichen Ausbildung, die natürlich bei uns zum Teil andere Möglichkeiten bietet, als das im europäischen Ausland der Fall ist. Ich erlebe das immer, wenn ich unsere Erzieherinnen etwas vergleiche mit den französischen Erzieherinnen, die ja ein Studium dort absolviert haben. Wenn man dann wirklich mal in die Inhalte, in die Kompetenzen, in die Fähigkeiten hinein schaut, sieht man, dass unser Ausbildungssystem so schlecht überhaupt nicht ist.

Deutschlandradio Kultur: Es geht nicht um schlecht, es geht um die Möglichkeit mehr Studenten an die Universität zu bringen.

Kramp-Karrenbauer: Ich verstehe die Frage. Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir zum einen auch noch mal deutlich machen, wo die Attraktivität eines Studiums liegt. Sie haben natürlich auch heute zum Teil eine Situation, dass Abiturienten sich bewusst gegen ein Studium entscheiden, weil sie in der direkten Ausbildung zuerst einmal eher eine sichere Lebensgrundlage sehen und dann vielleicht in einem zweiten Schritt noch ein Studium anschließen.

Die zweite Frage wird sein, wie wir auch diejenigen, die aus einem beruflichen System heraus kommen, noch mal zu einem Studium bewegen können, bis hin zur Frage, wie wir mit denjenigen umgehen, die sich Kompetenzen in ihrer Ausbildung erworben haben, denen aber das Abitur fehlt, den Weg zum Studium noch mal öffnen können.

Deutschlandradio Kultur: Das Abitur bei McDonalds.

Kramp-Karrenbauer: Das ist etwas sehr überspitzt geschildert worden, das Abitur bei McDonalds, aber Tatsache ist, dass wir in Deutschland aus meiner Sicht wirklich ein sehr gutes System anbieten, bei dem es möglich ist, im Zuge seiner beruflichen Ausbildung gleichzeitig auch zu einem höherwertigen allgemeinbildenden Abschluss zu kommen. Das halte ich für sehr wichtig, wenn wir zum Beispiel im Saarland mit Blick auf die Erzieherinnen und Erzieher und das, was dort debattiert wird, mittlerweile zu einer Ausbildung gekommen sind, dass diejenigen, die die entsprechende Fachschule besuchen, durch die entsprechenden schulischen Module eine Fachhochschulreife erreichen und damit zum Beispiel auch ein entsprechendes Fachhochschulstudium absolvieren können.

Deutschlandradio Kultur: Aber in Frankfurt werden solche Absolventen schon nicht mehr an der Universität angenommen. Der Trend zur Auslese nimmt zu, auch durch die Autonomie der Universitäten. Wie wollen Sie dem begegnen?

Kramp-Karrenbauer: Das ist ein Punkt, der aus meiner Sicht im Zusammenhang mit der Forderung nach einem vergleichbaren länderübergreifenden Abitur gesehen werden muss. Denn in dem Maße, wie der Eindruck entsteht, dass das Abitur sozusagen nicht mehr die gleiche Hürde für alle ist oder nicht unbedingt vergleichbare Qualitäten bringt, haben sie natürlich auch den Trend an den Universitäten selbst zu sagen, wir schauen uns unsere Studenten noch mal genau an und machen eine eigene Prüfung. Also ist die Frage des vergleichbaren Abiturs aus meiner Sicht auch eine Überlebensfrage für das Abitur. Im Übrigen wird es aus meiner Sicht immer ein Nebeneinander von eigenen universitären Prüfungen und Abitur geben. Das ist etwas, was wir in Frankreich auch traditionell erleben. Und das ist etwas, was sich auch in Deutschland einpendeln wird.

Deutschlandradio Kultur: Frau Kramp-Karrenbauer, wir danken für das Gespräch.

Kramp-Karrenbauer: Bitteschön.