Die große Kluft

Von Markus Rimmele · 28.01.2013
Offiziell ist China immer noch kommunistisch. Vom Anspruch der Gleichheit scheint sich das Land aber verabschiedet zu haben: Der Reichtum wächst rasant, Luxusmarken von BMW bis Prada sind gefragt. Doch nicht alle haben etwas vom wirtschaftlichen Dauerboom.
Shen Yuanyuan schürzt die Lippen, nippt an einem großen Rotweinkelch. Sie schluckt, ihr Gesicht hellt sich zufrieden auf. Shen arbeitet in der Finanzbranche. Jetzt sitzt sie bei einer Weinprobe mit Geschäftsfreunden im exklusiven Aoron-Weinkeller in Shanghai.

"Die teuersten Weine, die ich jemals getrunken habe, kosteten pro Flasche 30.000 bis 50.000 Yuan, 3.500 bis 6.000 Euro," erzählt die 28-Jährige. Ein Freund hatte sie zu einer Party mitgebracht. "Sechs Flaschen, alles berühmte französische Marken. An dem Abend haben wir weit über 10.000 Euro für Wein ausgegeben."

Wein spielt eine große Rolle in ihrem Leben, sagt die junge Frau – so wie für viele neue Reiche in China. Teure Weine sind zu einem Statussymbol und zu einer beliebten Geldanlageform geworden. So wie Kunst. So wie Luxusimmobilien in Hongkong, Singapur oder London. So wie Nobelautos. Der jährlich in Shanghai veröffentlichten Hurun-Reichen-Liste zufolge leben in China heute rund 250 Dollar-Milliardäre und mehr als eine Million Millionäre.

Ein kleines Dorf in der südwestchinesischen Provinz Guizhou, der nach Pro-Kopf-Einkommen ärmsten des Landes. Hier lebt Bauer Liang Wu. Er verdient sein Geld mit Landwirtschaft.

"Wenn wir alle Einkünfte zusammenzählen, inklusive Schweinezucht, verdienen wir am Jahresende 3000 Yuan, 350 Euro. Für fünf Personen ist das natürlich nicht genug. Manchmal leihe ich mir Geld von anderen. Das meiste gebe ich für die Ausbildung der Kinder aus und für die Bewirtung von Gästen."

Eine boomende Luxusbranche einerseits, der Kampf ums tägliche Überleben andererseits. Das ist die Realität im formal immer noch kommunistischen China. Die sozialen Unterschiede haben enorm zugenommen. Einer Studie der Südwest-Universität in Chongqing zufolge kontrollieren die reichsten zehn Prozent der Chinesen 86 Prozent des Wohlstands im Land. Immerhin: Fast allen Chinesen geht es heute materiell besser als vor 30 Jahren, als die Öffnung des Landes begann. Doch manchen geht es unendlich viel besser, anderen nur ein bisschen. Diese Ungleichheit schafft Konflikte. Vor allem unter Arbeitern und Bauern steigt die Unzufriedenheit. Lokale Proteste sind Alltag. Die Anzahl von Aufständen und Demonstrationen hat sich allein zwischen 2006 und 2010 verdoppelt, schätzen Soziologen von der Pekinger Qinghua-Universität. Sie gehen von 180.000 Protesten pro Jahr aus, darunter 30.000 Arbeiterstreiks.

"Ich spüre, wie sich da eine Stimmung in der Gesellschaft ausbreitet, und zwar in den unteren Schichten," sagt der Soziologe Yu Hai von der Shanghaier Fudan-Universität. "Gewalt wird immer mehr zu einer allgemeinen Kultur. Das ist ein gefährliches Zeichen."

Besonders groß ist die Wut wegen der allgegenwärtigen Korruption unter den Beamten, Parteikadern und Mitarbeitern von Staatsunternehmen. Diese bereichern sich oftmals schamlos auf Kosten der Bevölkerung. Genau das macht aber eine Bekämpfung der Ungleichheit so schwierig. Denn in China gilt: je näher an der Macht, desto besser der Zugang zu Geld und Ressourcen. Die politische Elite müsste für eine Umverteilung ihre eigenen Privilegien beschneiden, die Korruption bekämpfen und verzichten.
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