Die Grausamkeit des napoleonischen Russlandfeldzuges

27.09.2012
Eckart Kleßmann schreibt in seinem neuen Werk Geschichte von unten. Der Publizist schildert den Russlandfeldzug Napoleons überwiegend aus der Sicht einfacher Soldaten. Und verdeutlicht so die Grausamkeit der militärischen und humanen Katastrophe des frühen 19. Jahrhunderts.
"‘Tot - alles - alles - tot.’" - Mit diesen Worten fasste 1813 ein sterbenskranker Heimkehrer das Ergebnis von Napoleons Russlandfeldzug zusammen. Tatsächlich sollte jeder Leser, der mit Eckart Kleßmanns "Verlorenen" den Marsch nach Osten antritt, auf den engen Umgang mit dem Tod gefasst sein, und auf entsetzliche Zeugnisse von Hunger, Durst, Kälte, Krankheit, Verelendung, Gewalt und Not bis hin zum Kannibalismus. Napoleon ging in Russland der Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren, bis zu eine Million Menschen - Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten – verlor indessen ihr Leben.

Der Publizist Eckart Kleßmann, der bereits 1972 zeitgenössische Berichte vom Russlandfeldzug veröffentlicht hat, schildert die militärische und humane Katastrophe aus der Sicht von deutschen, schweizerischen, französischen und russischen Augenzeugen, überwiegend einfachen Soldaten. Bisweilen streut Kleßmann nur einen Satz ein, um seitenlange Zitate aus Tagebüchern, Feldpostbriefen und Memoiren zu verknüpfen.

Ihre Anordnung folgt der Chronologie des Feldzugs, den mörderische Märsche stärker prägten als die wenigen Schlachten. ("Es war kein Krieg, es war ein Wettrennen", pointierte General Jean Rapp, der Adjudant Napoleons.) Politische Hintergründe, Diplomatie, strategische Details: All das, wovon viele andere Bücher handeln, wird nur grob skizziert. Wer keine Vorkenntnisse hat, mag manche Information vermissen. Wissenschaftlich Interessierte werden dagegen bemängeln, dass Kleßmann Zitate nie ausweist, sondern nur ein Literaturverzeichnis anfügt. Das ändert aber nichts an der enormen Wucht des Buches, im Gegenteil.

Die Lektüre gleicht einem Exerzitium über die Grausamkeit des Krieges, nicht nur des französischen Feldzugs, sondern des Krieges überhaupt. Die Schilderungen, die Kleßmann zum Teil aus fast 200 Jahre Berichten übernommen und, so weit fremdsprachig, übersetzt hat, sind schwer verdaulich. Man sträubt sich oft, die Ereignisse noch weiter zu verfolgen, und ist doch wie gebannt.

Es entfaltet sich geradezu ein Panorama der Todesarten. "Welch ein Greuel! O Menschlichkeit - wie stöhnst du", notierte Leutnant Boris Uxkull. Er hatte miterlebt, wie ein französischer Gefangener an russische Bauern verkauft worden war - "diese tauften ihn mit siedendem Pech und spießten ihn lebend auf ein zugespitztes Eisenstück auf!"

Auf dem Rückzug der Grande Armee wird an der Hilfsbrücke über die Beresina wird eine Französin samt ihrem Pferd getroffen, und sie glaubt sich verloren. "Mit der anscheinenden Ruhe stiller Verzweiflung nahm sie ihr weinendes Kind, küsste es öfters, löste das blutige Strumpfband vom zerschmetterten Bein und erdrosselte das Kind. Hierauf schloss sie das gemordete Kind in die Arme, drückte es fest an sich, legte sich neben ihr gefallenes Pferd und erwartete so, ohne einen Laut hören zu lassen, den Tod", erinnert sich ein Augenzeuge an die Frau, die schließlich von Pferdehufen zertreten wurde.

Kleßmanns Buch schreibt Geschichte von unten. Es setzt ein Mahnmal für die Opfer des Russlandfeldzugs. Und es klagt die Täter an. Die vielen namenlosen, die im Elend bestialisch wurden. Und Napoleon, dem Menschenleben nichts galten.

Besprochen von Arno Orzessek

Eckart Kleßmann: Die Verlorenen. Die Soldaten in Napoleons Rußlandfeldzug
Aufbau Verlag, Berlin 2012
441 Seiten, 29,99 Euro
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