Die Geschichte umschreiben

Moderation: Dieter Kassel · 15.02.2011
Ursprünglich wollte der in Deutschland lebende arabischstämmige Schriftsteller Abbas Khider ein Buch über die Hoffnungslosigkeit der arabischen Intellektuellen verfassen. Doch dann wendete sich das Blatt. Bewegt schildert er seine Erlebnisse auf dem Tahrir-Platz in Kairo und nennt sie eine "Hochzeit für die Freiheit". Das Geheimnis der Bewegung sei ihre Einfachheit, so Khider.
Dieter Kassel: Es hat nur ungefähr drei Wochen gedauert – vom Beginn der Proteste in Ägypten bis zum vergangenen Freitag, bis zum Rücktritt eines Präsidenten, der das Land über 30 Jahre lang unangefochten regiert hat. Und diese plötzlich so schnelle Entwicklung in Ägypten, die kam nicht nur für das Ausland überraschend, für die meisten, eigentlich für alle im Ausland, sondern auch für manche Ägypter, vor allen Dingen für ältere Ägypter, die jahrzehntelang für Veränderungen gekämpft hatten und damit oft nichts weiter erreicht, als dass sie selber große Nachteile hatten und nicht selten im Gefängnis gelandet sind. Und mit diesem Gegensatz zwischen den optimistischen jungen Menschen, die die Veränderung am Ende herbeigeführt haben, und den anderen, die eine solche Veränderung eigentlich immer wollten in ihrem Heimatland, da sind wir mittendrin in der Geschichte, die Abbas Khider erlebt hat. Er ist eigentlich aus dem Irak kommender Schriftsteller, der seit über zehn Jahren in Deutschland lebt, in deutscher Sprache Bücher schreibt – sein neuester Roman wird Anfang März erscheinen, wird "Die Orangen des Präsidenten" heißen –, aber er hat auch ein anderes Projekt, ist in Ägypten unterwegs gewesen, um ein Buch zu schreiben, das jetzt sicherlich am Ende ganz, ganz anders sein wird als ursprünglich mal gedacht. Da lacht er schon im Hintergrund, er ist nämlich zu Gast bei uns hier. Schönen guten Tag erstmal!

Abbas Khider: Ja, schönen guten Tag!

Kassel: Bevor wir auf das kommen, was Sie in den letzten Tagen und Wochen in Ägypten erlebt haben, ursprünglich, als Sie anfingen zu recherchieren, mit Menschen zu reden, was für ein Buch sollte das ursprünglich mal werden?

Khider: Es ging um die alten Revolutionäre in der arabischen Welt. Ich suchte verschiedene alte Revolutionäre in der arabischen Welt, aber dann dachte ich, ich gehe nach Ägypten. Ägypten war immer das Zentrum der arabischen Kultur, und sie haben viele Aufstände in diesem Land gehabt. Und da war ich in Ägypten vor einigen Monaten, 2010, und ich habe schon viele alte Kämpfer, Linke getroffen, einige waren im Knast früher in den 70er-Jahren, auch 80er-Jahren, einige in den 90er-Jahren, Frauen und Männer, und die waren alle natürlich depressiv, hoffnungslose Wesen, und sie haben nie daran gedacht, [dass es] eine Änderung in diesem Land geben würde. Und das war eigentlich die Idee, ich wollte eigentlich über die Hoffnungslosigkeit der arabischen Intellektuellen schreiben, über diese Menschen, die gekämpft haben, aber dann festgestellt haben, alles, was wir gemacht haben, sinnlos. Das war die Idee. Und dann ...

Kassel: Dann sind Sie zurückgekommen, im letzten Jahr waren Sie da, da war das alles noch so, und da haben Sie bestimmt auch Leute getroffen, die genau diesem Bild entsprochen haben. Dann waren Sie wieder in Deutschland, und dann haben Sie wahrscheinlich zuerst mal im Fernsehen diese Bilder gesehen, ab dem 25. Januar?

Khider: Ja, da habe ich die Bilder gesehen, ich habe gesagt: Oh verdammt noch mal, das gibt es gar nicht! Das habe ich wirklich nicht erwartet. Und da dachte ich: Okay, ich muss jetzt meine Idee oder das Buch wirklich total ändern, weil damals suchte ich nach alten Revolutionären, jetzt gibt es Millionen auf der Straße. Ich wollte ursprünglich zuerst nach Tunesien, dachte ich, ich erlebe mal die Revolution dort, aber dann war richtig so heftig in Ägypten, und ich dachte, ich muss das jetzt machen. Bin ich zuerst nach Beirut gegangen und von Beirut habe ich gewartet, bis ich einen Flug bekommen habe, und dann bin ich nach Kairo dorthin gegangen.

Kassel: Da waren Sie ja jemand, der in die falsche Richtung unterwegs war, da wollten ja ganz viele Leute weg, vor allen Dingen Ausländer, aber auch Ägypter. Wie war das bei der Ankunft in Kairo, weil im Fernsehen hat man zwar einen Überblick, aber man fühlt ja nur so ein bisschen was. Als Sie da in Kairo vom Flughafen in die Stadt sind, haben Sie sofort gemerkt, das ist jetzt plötzlich ein anderes Land als noch vor drei, vier Monaten?

Khider: Ja, auf jeden Fall. Man hatte gemerkt diese Unruhe am Flughafen. Ich habe das gemerkt, viele Soldaten unterwegs, Panzer, Armee, wirklich überall, das war auch unüblich. Unterwegs habe ich auch viele Gebäude gesehen, die zum Beispiel total zerstört sind, Müll überall – normalerweise Kairo [ist] immer eine schmutzige Stadt gewesen, aber dieses Mal war echt Müll überall. Man hatte gemerkt, und die Leute, man merkt, dass sie Angst gehabt haben auf der Straße überall. Ich war im Hotel, habe ich meinen Koffer liegen lassen, bin ich direkt zu meinen Freunden natürlich Al-Tahrir-Platz, ja, und dort ist es komischerweise überall in Kairo damals, überall in Kairo fühlte man sich unsicher, aber am Al-Tahrir-Platz war die Sicherheit, da fühlte man sich richtig, richtig in Sicherheit.

Kassel: Warum? Weil dann so viele da waren oder warum?

Khider: Es waren zuerst so viele, zweitens, die Jungs und die Mädels haben alles so gut organisiert, unglaublich. Zum Beispiel: Jungs aus der Mittelschicht haben sich zum Beispiel um Facebook, Twitter, Internet gekümmert. Die Reichen, die haben sich um Fernseher, Presse, Politiker gekümmert. Und die Armen, sie haben ihre Muskeln gezeigt und immer alles organisiert. Es war eine Harmonie. Ich habe das Gefühl, diese Leute haben am Al-Tahrir-Platz ein Gedicht zusammen gebildet, das jeder fühlen kann und lesen kann und miterleben kann und mitschreiben kann. Es war wirklich wie eine Hochzeit für die Freiheit. Das habe ich wirklich seit Ewigkeit nicht erlebt. Ich habe das 1991 im Irak erlebt, im irakischen Aufstand, aber so magisch und so schön wie in Kairo war das auch nicht.

Kassel: Aber als Sie damals da waren am Tahrir-Platz, was Sie gerade beschrieben haben, da war ja Mubarak noch nicht zurückgetreten. Da hat er sogar noch in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehen und natürlich auch im ägyptischen Fernsehen gesagt: Kann mal gucken, Veränderungen immer denkbar, aber ich werde nicht zurücktreten, ich werde dieses Land – ich verlass es nie, hat er am Anfang sogar gesagt. Wenige Tage später war davon keine Rede mehr, inzwischen ist er längst weg, aber in dem Moment haben Sie noch gedacht, na ja, er wird vom Militär gestützt – war auch lange nicht klar, wie wird sich das Militär verhalten –, in dem Moment, kann das alles noch böse ausgehen?

Khider: Ja, viele, viele, viele haben daran gedacht, ich auch persönlich. Alle Karten waren offen, und dann haben wir ständig, zum Beispiel die Leute da, ständig hatten sie das Gefühl, es könnte besser werden, aber es könnte auch schlechter werden. Und man hatte Angst ständig, aber die Ägypter haben eine Fähigkeit: Sie können mit Leichtigkeit mit vielen Dingen umgehen. Da haben wir eigentlich manchmal über uns selbst und über unsere Ängste gelacht, weil sie auch kreativ waren, da konnten die Leute auch wirklich viele Grausamkeiten ertragen. Zum Beispiel: Da kommt ein Junge an den Al-Tahrir-Platz, hatte zum Beispiel Lautsprecher dabei und rief: Ich will eine Frau heiraten, die Diktatoren wie Mubarak nicht mag. Und alle Mädels dann schreien: Ich bin, ich bin ... Und das sind Tausende von Leuten. Und dieses zum Beispiel, solche Sachen, hat wirklich die Leute auch stark gemacht. Und dieses Gefühl, dass alle zusammen sind, das gab jedem das Gefühl, wir müssen weiter. Und jedes Mal hat man gemerkt, da kommen plötzlich alte Leute, Frauen, Kinder, Soldaten plötzlich auch gekommen, und sie wollten auch mitmachen. Politiker, Schauspieler, Künstler, da kommen Leute aus dem Ausland, wie zum Beispiel der Abbas. Das ist irgendwie das Gefühl, wir sind alle zusammen. Und das war echt komisch, diese Stärke habe ich nie gesehen in der arabischen Welt. Und außerdem, das ist das erste Mal, die Stimme der jungen Generationen ist da, ist lauter als alle anderen Stimmen. Und das hat die Leute jedes Mal mehr Hoffnung gegeben, um weiterzumachen. Wir hatten alle Angst, dass es wirklich schiefgeht, aber irgendwie, jeder wollte weitermachen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit dem Schriftsteller Abbas Khider. Er lebt in Deutschland, stammt aus dem Irak und erzählt von seinen Erlebnissen in Ägypten, die – das muss man ja zugeben – zu 99,99 Prozent schön sind, bis auf einen Punkt: Sie können ja das Buch jetzt nicht so schreiben, wie Sie es eigentlich schreiben wollten. Es kann nicht so schlimm sein, wenn Sie jetzt lachen, nee, es gibt auch Wichtigeres, als das Buch schreiben zu können, das man eigentlich schreiben wollte, aber haben Sie denn eigentlich in all diesem Getummel, auch dem Durcheinander, das Sie dann erlebt haben in den letzten zwei, drei Wochen, noch mal von diesen alten Revolutionären, mit denen Sie ursprünglich gesprochen hatten, irgendeinen wiedergesehen?

Khider: Ja.

Kassel: Was sagen die jetzt?

Khider: Ich habe zum Beispiel einen von denen getroffen, der war echt fix und fertig. Zuerst hat er die ganze Zeit wie ein Kind gelacht, wirklich wie ein Kind, und plötzlich habe ich wirklich so diese Ausstrahlung in seinen Augen, das war unglaublich. Vorher hatte ich das Gefühl, seine Augen waren richtig tot, und jetzt sind sie richtig lebendig. Lebendigkeit wirklich brennt da in seinen Augen. Und dann redete er und sagte mir: Ich habe wirklich daran nie gedacht, aber jetzt habe ich wirklich endlich kapiert, dass wir früher alles, was wir gemacht haben, waren auch sozusagen die ersten Steine für diese Revolution, das heißt, mein Leben, das ich verloren habe, ist nicht verloren gegangen, es war der Anfang – und diese jungen Leute haben das gemacht. Und plötzlich habe ich wirklich gemerkt, auch diese depressiven Leute haben endlich Hoffnung. Und dieses Gefühl, dass wir alles vorbereitet haben, es ist wunderbar für sie. Sie können jetzt weitermachen und sie können auch mit diesen jungen Generationen auch zusammenarbeiten, und das ist wirklich wunderbar.

Kassel: Ist das auch wichtig, weil sich viele Menschen auch in Ägypten jetzt fragen müssen, Mubarak ist nun schon weg, hoffentlich wird bald auch der Rest seines Regimes weg sein, die anderen Politiker, aber dann muss ja jemand anders folgen. Und wenn das Militär Wort hält und sagt, wir bleiben nicht an der Macht, wir lassen es zu, dass es Demokratie gibt, dann braucht man natürlich Politiker, von allen Parteien, und die wachsen nicht auf Bäumen. 30 Jahre lang hat man die nicht gewollt, hat man die gefoltert und unterdrückt. Diese Alten, die vorher frustriert waren, stehen die jetzt auch zur Verfügung, um das Land mitzuregieren, wenn man sie denn fragt?

Khider: Okay, ich glaube schon, aber wir müssen wirklich jetzt sagen, was ist das Geheimnis dieser Bewegung. Ich glaube, das Geheimnis dieser Bewegung in der arabischen Welt ist die Einfachheit. Die Leute sind auf die Straße gegangen und wollten Mensch sein, sie wollten mit Würde und Stolz leben. Und die Leute haben wirklich jetzt festgestellt, dass diese einfachen Dinge, diese universellen Rechte, Menschenrechte, sie haben wirklich festgestellt, das können wir mit friedlichen Mitteln, wenn wir miteinander das machen und uns organisieren auf der Straße. Und ich glaube es, die Ägypter haben das gelernt, wie sie um ihre Rechte kämpfen. Viele Dinge sind vorbei, zum Beispiel diese Überzeugung, dass nur die Islamisten eine Änderung in der arabischen Welt führen können, das ist auch vorbei, dass nur die Amerikaner auch was ändern können mit ihren Armeen, es ist auch vorbei, es sind alle Änderungen mit diesem Israel-Palästina-Kontext verbunden, es ist auch vorbei, Al Kaida spielt nicht mehr eine Rolle. Was soll ich sagen? Es gibt eine Bewegung in der Gesellschaft, es gibt eine neue Zeit, habe ich das Gefühl. Und von diesen neuen Leuten, auch diese alten Generationen, sie sind wie neu geboren. Ernsthaft, am Al-Tahrir-Platz hatte ich das Gefühl, ich wäre neu geboren worden. Und ich glaube jetzt endlich, die Stimme der einfachen Menschen ist da, und sie ist lauter als alle anderen. Und das ist das Geheimnis: Diese Einfachheit der Leute, Einfachheit ihrer Wünsche, Einfachheit ihrer Träume, das ist, was gerade alles magisch und schön macht.

Kassel: Der Schriftsteller Abbas Khider, dessen Ägypten-Buch nun vorerst nicht erscheinen wird, aber sein neuester Roman, "Die Orangen des Präsidenten", der erscheint Anfang März in der Edition Nautilus.

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