Die Geschichte der Barockoper

Galante Inder, Indianer und dazu noch Ballett

Oper "Francesca di Rimini"
Zeitgenössische Darstellung der italienischen Oper "Francesca di Rimini" um 1900. © imago/Leemage
Von Michael Maul · 22.12.2016
Liebeschnulzen, Erweckungserlebnisse und ein bisschen Befreiungskampf - die Palette der Opern-Themen ist breit. Manch Autor und so einige Komponisten hatten auch Utopien im Blick beim Schreiben und Komponieren der Werke: ein Blick auf die großen Motive der Opernwelt.
Der Kunsthistoriker Oskar Bie apostrophierte die Gattung Oper als das "unmögliche Kunstwerk" schlechthin. Und der Literaturpapst der Aufklärung Johann Christoph Gottsched schimpfte sie als "das unnatürlichste und ungereimteste Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden hat". Kurz: Die Oper ist die üppigste, maßloseste, zugleich aber auch faszinierendste Gattung, die die Musikgeschichte hervorgebracht hat. Der Aufwand, den man für sie betreibt, ist utopisch. Ihre Handlungen und Botschaften sind es oft auch. Und das war eigentlich schon immer so.
Eigentlich war es ein Mißverständnis, das Ende des 16. Jahrhunderts zur Geburtsstunde der Oper führte. Damals gelangten italienische Gelehrte zur – bis heute unbewiesenen – Erkenntnis, daß die berühmten Schauspiele der Antike ursprünglich gesungen dargeboten worden waren. Und weil es im Zeitalter der Renaissance Usus war, möglichst alles von den alten Griechen zu kopieren, sich aber keine einzige Note aus ihren vermeintlichen Singespielen erhalten hatte, gab man sich der Utopie hin, die verlorenen Werke aus dem Nichts heraus rekonstruieren zu können, sprich: sie neu zu komponieren.

Aus dem Untergrund die Frau ins Diesseits bringen

Es war also kein Zufall, daß in den ersten Opern der berühmteste Sänger des Altertums persönlich, nämlich der Barde Orpheus, in die Unterwelt herabsteigen mußte, um mit einer Mischung aus sprechendem Gesang, dem sogenannten Rezitativ und betörenden Liedern seine geliebte Frau zurück ins Diesseits zu holen. Letzteres mußte bekanntermaßen mißlingen. Aber mit dem Paradoxon, daß die Opernakteure singend miteinander zu sprechen pflegen, andererseits ihre Gefühle und ihre Virtuosität in betörenden Gesängen zur Schau stellen, hat sich das Publikum seit Claudio Monteverdis Zeiten bestens angefreundet.
Die neue Gattung Oper als ein buntes Konglomerat aus Arien, Sprechgesang, Tänzen und einer Handlung, die auch gern mal gegen die Gesetze der Logik verstoßen darf, nur um die Zuhörer binnen eines Abends durch ein ganzes Meer von Affekten zu treiben, trat binnen kürzester Zeit ihren Siegeszug in ganz Europa an. Die Höfe und Metropolen zwischen St. Petersburg und London versuchten sich mit den berühmtesten Sängern zu schmücken. Und weil die im Kindesalter entmannten italienischen Kastraten nunmal die lautesten und höchsten Stimmen hatten, durchstreiften die besten unter ihnen rastlos den Kontinent. Überall lag man ihnen zu Füßen und belohnte sie mit utopischen Gagen. Zumal ihre Auftritte nicht nur wegen der zur Schau gestellten Virtuosität Begeisterungsstürme hervorriefen.
Eben weil die Kastraten über eine Sopranstimme verfügten und natürlich die Rolle des männlichen Helden übernahmen, suggerierten ihre Liebes-Duette mit den großen Operndiven ihrer Zeit eine Utopie, die im Barock weit entfernt von der realen Geschlechterordnung war: nämlich die Utopie der Gleichheit von Mann und Frau und von einer gegenseitigen Anziehungskraft, die eben nicht auf Unterwerfung, sondern auf Übereinstimmung beruht. So etwa demonstriert in London vom berühmten Senesino und der vergötterten Madam Cuzzoni im Jahr 1724, als Händel am Schluß seiner Erfolgsoper "Giulio Caesare" den Titelhelden glücklich ein Duett mit seiner Kleopatra anstimmen läßt. Beide schwören sich ewige Liebe und Treue, und die Begegnung auf Augenhöhe wird auch dadurch evident, daß der Gleichklang der Stimmen und ihr permanentes Verschmelzen es dem Zuhörer fast unmöglich macht zu unterscheiden, wer da gerade seinen Treueschwur leistet.

Auf der Bühne keine Revolutionen

Die Schöpfer der Barockopern hatten noch nicht den Anspruch, Revolutionsopern zu komponieren. Aber ihr Publikum mit exotischen Handlungen zu verzaubern und sie für vier, fünf Stunden aus der Realität in eine utopische Welt zu entführen, das vermochten die Werke eines Händel, eines Keiser, eines Vivaldi oder eines Rameau bestens. Ja, für die barocken Opernlibretti war es nachgerade Programm, gesellschaftliche Rangordnungen auf den Kopf zu stellen: etwa als das älteste bürgerliche Opernhaus Deutschlands, die Hamburger Gänsemarktoper, im Jahr 1728 ihr 50jähriges Jubiläum feierte und Telemann zu diesem Anlaß die wunderbare Sage von "Emma und Eginhard" in Szene setzte – also die Geschichte von jener Tochter Karls des Großen, die trotz heftigster Widerstände ihres Vaters schließlich doch ihren geliebten Eginhard, den bürgerlichen Sekretär des Kaisers, heiratet.
Übrigens: Auf der Bühne Gesellschaftskritik zu üben, gehörte in den deutschen Opern des frühen 18. Jahrhunderts gewissermaßen zum guten Ton, blieb aber zumeist ein Privileg der Hanswurst-Gestalten, die in vordergründig lustigen Gleichnisarien dem Publikum allerlei Wahrheiten ins Stammbuch singen durften. Doch es war ebenfalls Teil des Spiels, daß derjenige, der sich angesprochen fühlen durfte, stets die Fassung bewahrte. Ein zeitgenössischer Verhaltensratgeber für adlige Personen empfahl jedenfalls ausdrücklich:
"Es geschieht bißweilen, daß in einer Oper etwas vorkömmt, welches sich ganz natürlich und ungezwungen auf eine Person applicieren läßt. Fühlt man sich selbst betroffen, so tut man am klügsten, wenn man sich nicht übel ärgert, sondern so tut, als ob man gar nichts merket."
Angesichts des gigantischen Aufwandes, den die barocken Opernhäuser allenthalben für die Darbietung und Inszenierung ihrer Singespiele betrieben, ist die Opernbühne ohne Zweifel als das Hollywood des Barock zu bezeichnen. Sprich: Als ein Sehnsuchtsort, für den keine Vision zu fern und kein Bühneneffekt zu gefährlich war und an dem sich selbst die vertracktesten Intrigen und kompliziertesten Eifersuchtsdramen immer wieder in Wohlgefallen aufzulösen pflegten.
Und manchmal, ja manchmal präsentierte man dem staunenden Publikum auch gesellschaftliche Utopien, die noch und gerade im 21. Jahrhundert unter die Haut gehen. So geschehen etwa im Jahr 1736 im königlichen Opernhaus in Paris, als Jean Philipp Rameau in einer Ballettoper die galanten Inder, also die Ureinwohner Amerikas, in Szene setzte. Im letzten Akt des opulenten Werks treffen die französisch/spanischen Eroberer der neuen Welt auf die Indianer Nordamerikas und leisten sich mit diesen erbitterte Gefechte. Doch was zunächst als Vernichtungsfeldzug geplant war, endet in einem friedlichen, brüderlichen Miteinander, und zwar in dem Moment, als die Indianer mitten in der Schlacht einen betörenden Friedenstanz aufführen, dem sich keiner entziehen kann. So einfach geht Frieden auf der Opernbühne!
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