Die Gegenwart ist ein Kunstprodukt

Alexander Kluge im Gespräch mit Katrin Heise · 23.01.2012
"In Wirklichkeit leben wir in einem Fluss", sagt Alexander Kluge. Er sammelt und erzählt seit 50 Jahren Lebensläufe. Nach seiner Ansicht lebt ein Mensch reicher, wenn er auch seine Vergangenheit und seine Zukunft mit in den Blick nimmt.
Katrin Heise: Unsere Lebensläufe sind die Häuser, aus deren Fenstern wir Menschen die Welt deuten. Ein Gefäß der Erfahrung für das literarisch Erzählbare. Das sagt Alexander Kluge über "Lebensläufe", Lebensläufe, die er seit 50 Jahren sammelt und erzählt. Wahrheit und Fiktion ist dabei nicht immer auseinanderzuhalten. Von Alexander Kluge stammt auch der Text, den wir jetzt als Ausschnitt in einer Hörspielfassung mit Helge Schneider hören. "Pranke der Natur" heißt der und da kommt ein Mitarbeiter des Technischen Hilfswerkes zu uns sozusagen, er war bei Aufräumarbeiten im Atomkraftwerk in Fukushima und er berichtet davon in den Medien.
Es war ein Wunsch von Alexander Kluge, dies an dieser Stelle zu hören, gestern war er nämlich gerade in München und hielt die Laudatio auf Helge Schneider. Der hat nämlich den Karl-Valentin-Preis bekommen. Schönen guten Tag, Herr Kluge, ich grüße Sie!

Alexander Kluge: Guten Morgen!

Heise: Der lustige THW-Mitarbeiter, Herr Kluge, soll der mit seiner Sicht auf die Dinge die Ungeheuerlichkeiten, die Absurditäten der Welt verdeutlichen?

Kluge: Sagen wir mal, wenn die Pranke der Natur da in Fukushima zuschlägt, dann ist das ja nicht lustig. Und er beleuchtet das dadurch, dass er eben von Mülheim kommt, von uns kommt, die wir hier nicht betroffen sind oder nicht betroffen scheinen, sieht es absurd aus. Und es ist ja zum Teil für die Menschen dort extrem schrecklich. Und ich muss aber auch sagen, wenn die Feuerwehrleute da von Tokio ihr Leben hingeben und gar nicht wissen, was mit ihnen geschieht, wenn sie da verstrahlt werden, das ist nun auch tapfer. Da sind die Samurais am Werke. Also, es sind sehr viele Zusammenhänge eigentlich, die da zusammenkommen und uns wie so ein Menetekel vorgehalten werden, wenn wir an Fukushima denken.

Heise: Ja, und diese Sequenz zeigt ja auch so ein bisschen das Nebeneinander verschiedener Wirklichkeiten, fand ich, so, wie man die gleiche Situation wahrnehmen kann: Fukushima als Katastrophe oder eben auch als ... so ein bisschen als Erlebnis. Kommt das immer auf die Wahrnehmung an?

Kluge: Es kommt darauf an, dass wir Menschen einfach ein Bedürfnis in uns haben, es von verschiedenen Seiten wahrzunehmen. Wir sind viel vielfältiger, als man meint. Und man kann nicht nur in Trauer verharren und man kann ... Nur in Heiterkeit, das wäre auch der falsche Blick.

Heise: Sie erzählen seit 50 Jahren Lebensläufe, wahre, fiktive, veränderte. Mit jetzt dem fünften Buch wird dieses Erzählprojekt abgeschlossen. Das hatte ja selber einen ganz schön langen Lebenslauf, das Projekt, hat Sie den größten Teil Ihres Lebenslaufes begleitet. Haben die sich gegenseitig beeinflusst, die Lebensläufe des Projekts und Ihrer?

Kluge: Sagen wir mal so, jeder Mensch lebt ja in seinem Lebenslauf. Und dann gibt es noch die Eltern oder die Kinder, also drei Lebensläufe zusammen, drei Generationen bilden einen Erzählraum. Das geht ja nicht sachlich vor sich, dass man so in Hundertjahresabständen irgendwas denkt oder in Zehnjahresabständen, sondern in den Arten, in der ein Mensch lebt. Und da guckt aus dem Lebenslauf eben ein sechsjähriger Mensch oder ein 60-Jähriger oder ein 30-Jähriger, das heißt, jeder Blick ist anders. Und mich hat sehr verblüfft, dass die Lebensläufe, die ich damals geschrieben habe, 1962, das war ja mein erstes Buch, die bezogen sich auf Menschen, die durch das Jahr 1945 in ihrem Leben zerteilt werden, zerschnitten werden, und ich habe gemerkt, im 21. Jahrhundert sind die Lebensläufe eben ganz anders. Und Lebensläufe haben nicht nur Menschen, sondern auch Landschaften. Also, meinetwegen meine Stadt Halberstadt hat einen Lebenslauf, wenn Sie so wollen, das Ruhrgebiet einen sehr intensiven Lebenslauf, über acht Generationen hinweg. Dinge haben Lebensläufe. Das heißt, alles, was lebt oder mit Menschen zu tun hat, hat Lebensläufe. Und das nimmt im 21. Jahrhundert, wo wir zu sieben Milliarden Menschen leben, eher zu als ab.

Heise: Das nimmt mehr zu als ab ... Sie haben ja tatsächlich, Sie haben ja eben auch beschrieben, was Sie alles versammelt haben unter dem Begriff Lebenslauf. Lebenslauf umfasst ja vor allem immer durchaus Generationen. Schauen wir eigentlich im 21. Jahrhundert zu wenig in die Vergangenheit beziehungsweise interessieren wir uns zu wenig für die Vergangenheit unserer direkten Vorfahren, haben Sie da das Gefühl?

Kluge: Sagen wir mal so: Wir sollten nicht zu sehr nur an die Gegenwart glauben oder auf sie starren, denn sie ist ein Kunstprodukt. In Wirklichkeit leben wir in einem Fluss, der von der Vergangenheit in die Zukunft zieht. Und der hat neben sich noch ganz viele andere Flüsse, zum Beispiel den Konjunktiv, die Möglichkeitsform. Sehr vieles ist möglich, was das Leben anders machen könnte in jedem Moment. Als Schriftsteller sage ich ja nicht Soll-Vorschriften auf, sondern ich sage: Ein Mensch lebt reicher, nimmt reicher wahr, wenn er diese vielen grammatischen Formen, dass wir in verschiedenen Zeiten und auch verschiedenen Möglichkeiten leben, wahrnimmt.

Heise: Alexander Kluge zu hören im Deutschlandradio Kultur. Herr Kluge, Lebensläufe werden geschönt, sie werden begradigt, bevor man sie erzählt oder einer Bewerbung beigibt. Welche sind Ihnen lieber, die erfundenen oder die nicht erfundenen oder ist das egal?

Kluge: Da ist kein Einziger erfunden. Manchmal müssen Sie eine Geschichte, die Sie nicht kennen können – also, wer sitzt seitlich von Präsident Obama, während er gerade dort auf den Tod von Bin Laden guckt –, das kann ja keiner wissen. Wenn es im Foto nicht aufgenommen ist, dann weiß es keiner. Und dann können Sie dort eigentlich nur fiktiv arbeiten. Aber dieses Fiktive ist genau so authentisch. Gucken Sie, wenn Sie mit Ihren Erinnerungen umgehen oder mit Ihren Erlebnissen, dann werden Sie auch immer Ihren Kommentar zugeben, Ihre Wünsche hinzugeben. Und würden Sie sich sagen, die Wünsche sind unrealistisch? Nein, die Wünsche sind keine Fiktionen! Ein Mensch ist realistisch und er hat einen Antirealismus des Gefühls in sich. Das heißt, er protestiert, er stimmt zu, er ist den ganzen Tag eigentlich tätig mit Erzählen.

Heise: Und sein Lebenslauf gehört ihm. Ich habe jetzt gerade vor ein paar Tagen einen Bericht gehört, dass die Stasi sich die Lebensläufe lebender Personen aus dem Westen besorgt hat, um damit ihre Agenten zu tarnen. Also quasi hat die den Lebenslauf eines Menschen verdoppelt. Die Ausspionierten, die reagieren jetzt wirklich fassungslos, wenn sie, auch wenn sie nach Jahrzehnten erst davon erfahren. Sie fühlen sich quasi bestohlen, um ihren Lebenslauf bestohlen. Macht Ihnen das auch ein komisches Gefühl so, dieses, also, wenn man sich das vorstellt, dieses Aneignen eines Lebenslaufes?

Kluge: Das ist schon eine unheimliche Sache. Und so ein Lebenslauf ist ja mehr noch als ein Eigentum, das ist man selbst. Und das weggenommen zu kriegen, das wäre wie eine Gespenstergeschichte von E.T.A. Hoffmann, der so was gerne geschrieben hat im 19. Jahrhundert, als es noch nicht so oft passierte. Aber Lebensläufe können auch weggenommen werden durch die Zeitgeschichte. Gucken Sie, Ihr Betrieb wird stillgelegt, Sie sind jetzt in der Arbeitslosenschleife und Ihnen ist alles, was Sie wissen, enteignet. Das sind schon schlimme Teile des Lebens. Und sie wahrzunehmen, das ist schon wichtig für uns alle.

Heise: "Das fünfte Buch", das ist ein ganz dickes Lesebuch, in dem man eben von Geschichte zu Geschichte springen kann. Manchmal sind sie kürzer, manchmal länger, verweilt man bei einer Person. Jürgen Kaube in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", der schreibt, vor 300 Jahren wären das die Balladen der Bänkelsänger gewesen, mit denen sie über Land gezogen sind. Trifft er das ganz gut, sehen Sie sich so ein bisschen als Bänkelsänger?

Kluge: Das hat mir gut gefallen, das hat mir sehr gut gefallen. Auch Balladen von Fontane oder von Schiller gehören ja zu meiner Lieblingslektüre. Und es ist ein großes Kompliment, wenn er sagt, dass Prosatexte Balladen sein können. Also, wenn es das erfüllt, dann bin ich sehr stolz.

Heise: Man kann schmökern und sich wundern, Sie machen es einem aber nicht immer leicht, dahinter einen Sinn zu erkennen. Ist das eigentlich wichtig oder ist es einfach auch schön, zu fabulieren?

Kluge: Das Fabulieren ist wichtiger. Gucken Sie mal, es gibt so viel Sinn gehäuft, manchmal ist es auch Schrott. Wir brauchen Wahrnehmung, Unterscheidungsvermögen. Den Sinn macht sich der Mensch schon immer selber.

Heise: Heutzutage kreiert ja sowieso jeder seinen Lebenslauf innerhalb weniger Klicks und schickt ihn um die Welt. Wären Sie gespannt auf Lebensläufe in 50 Jahren?

Kluge: Ach, da wäre ich sehr gespannt. Die werden aber nicht aus Klicks bestehen. Also, Lebensläufe haben ja an sich, dass Sie sie die ganze Zeit durchleben. Und wenn Sie hinfallen und das Bein brechen, dann macht das eine ganze Zeit. Das geht nicht mit Klick.

Heise: Da machen wir uns vielleicht was vor, oder?

Kluge: Wir machen uns vor, dass wir je aus den Lebensläufen und der normalen Zeit herausgehen können. Sehen Sie mal, im Zweiten Weltkrieg war plötzlich die Idee da, wir brauchen mehr Rekruten, also sollen die Kinder schneller zur Welt kommen. Wir machen jetzt die Schwangerschaften auf vier Monate. – Ging aber nicht ...

Heise: So versuchen wir, die Welt uns anzueignen, und dann gucken wir immer wieder drauf, was doch passiert ist tatsächlich. Alexander Kluge, "Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe", es erscheint heute im Suhrkamp Verlag. Herr Kluge, vielen Dank für das Gespräch!

Kluge: Alles Gute!

Heise: Machen Sie's gut!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Programmtipp:

Freispiel - Alexander Kluge zum 80. Geburtstag


Links bei dradio.de:

Hoffen auf ein Übernachtwunder
Alexander Kluge, "Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten", Suhrkamp Verlag, 336 Seiten


Die Liebe - ein Tausendfüßler
Alexander Kluge: "Das Labyrinth der zärtlichen Kraft, 166 Liebesgeschichten", Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009, 607 Seiten, mit einer DVD


Den Lichtspielhäusern verfallen
Alexander Kluge: "Geschichten vom Kino", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 351 Seiten


Ein Fluss aus verhinderten Geschichten
Alexander Kluges Erzählungen "Tür an Tür mit einem anderen Leben"
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