Die Folgen der Schläge

Rezensiert von Stephan Hebel · 05.08.2012
In vielen deutschen Familien der Wirtschaftswunderzeit ging es nicht so beschaulich zu, wie es in der Öffentlichkeit oft scheint. Eltern bestraften ihre Kinder hart und häufig - an den Folgen haben viele heute noch zu knabbern.
Das gehört sicher zum Besten, was heute einem guten Buch passieren kann: Es sprengt seine Deckel und schreibt sich von alleine fort. Im angeblich so flüchtigen Medium Internet gewinnt es noch zusätzlich an Gewicht und Relevanz.

Dieses verdiente Glück wurde dem neuesten Werk von Ingrid Müller-Münch zuteil. Die Journalistin, Buch- und Theaterautorin hat die Wirtschaftswunder-Kinder ins Reden gebracht. Und den erschütternden Erzählungen einer geprügelten Generation gesellen sich auf der Homepage zum Buch immer neue hinzu. Christian K. schreibt:

"Inzwischen denke ich, dass meine größte Leistung darin besteht, meine Kindheit überlebt zu haben."

Oder eine Barbara:

"Auch ich fühle mich heute als ausgewählter Sündenbock meiner Eltern, habe mich still gefügt aus Angst vor Liebesentzug und dem ganzen anderen gewaltigen Programm. Erst ab 55 erlaubte ich mir wirklich, mir selbst gegenüber freundlicher zu sein, mich nicht selbst schlechter zu machen und meine Fehler als Chance zu nutzen, anstatt mich nach alten Mustern runterzuziehen und zu strafen."

Und schließlich einer, der sich "hardy" nennt:

"Ihr Buch ist - richtig bedacht - ein Schlüssel, der uns jetzt vielleicht dazu verhilft, das Verhalten der Erwachsenen, die aus diesen Kindern wurden, aufzuschlüsseln und endlich, endlich, endlich zu verstehen, wie verkrüppelt unser Land lange war."

Ja, dieses Buch hat schon jetzt geholfen, das Schweigen zu brechen. Nicht das Schweigen über das, was in Kinderheimen und Internaten geschah, darüber haben andere zu sprechen begonnen. Was hier zum Vorschein kommt, das ist der gewalttätige Alltag in unzählbaren Familien der jungen Bundesrepublik. Eine lange verschwiegene Vergangenheit, wie Ingrid Müller-Münch mit leisem Staunen an sich selbst bemerkt:

"Immer dann, wenn ich irgendwie nicht pariert hatte, dann setzte es was. Aber nicht zu knapp. Ich hatte, wenn man so will, eine für die 50er und auch die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ganz normale Kindheit. Deshalb, weil sie so normal war, habe ich eigentlich nie mit jemandem darüber gesprochen. Dabei hat mich diese Vergangenheit die ganze Zeit beschäftigt, war mitverantwortlich für Ängste, die mich begleiteten, für Beziehungsprobleme, die ich hatte. Irgendwie war dieser Vertrauensbruch nie mehr aus meinem Leben wegzudenken."

Nicht wegzudenken? Es scheint, als hätten große Teile der geprügelten Generation versucht, genau das zu tun: ihr Trauma "wegzudenken".

"Die Scham verschließt den Mund"

zitiert Müller-Münch den Schriftsteller Tilman Röhrig.

"Man schämt sich für das, was passiert ist. Weil man sich so sehr ein gutes, ein liebevolles Elternhaus wünscht."

Und, lässt sich hinzufügen, weil das Akzeptieren häuslicher Gewalt noch lange das Klima bestimmte: Erst im Jahr 2000 war die gesellschaftliche Stimmung so weit gekippt, dass der Bundestag ein gesetzliches Verbot elterlicher Gewalt beschloss.

Geschwiegen aber wurde weiter. Gegen dieses Vergessen und Verdrängen hat Ingrid Müller-Münch nun erfolgreich angeschrieben. Verteilt über 280 Seiten hagelt es Schläge mit Rohrstöcken, Kochlöffeln und Teppichklopfern, beschreiben viele Opfer ihre Gefühle bei familieninternen Tribunalen ohne Revisionsinstanz. Oder sie schildern Vollstreckungsrituale, die an die Berichte von Scheinhinrichtungen erinnern.

Schon das dürfte helfen, die Scham zu überwinden, auch bei denen, die noch schweigen. Aber Ingrid Müller-Münch will mehr. Ohne den Erzählungen der Betroffenen ihre Wirkung zu nehmen, ohne je den gut lesbaren Stil zu verlieren, macht sie uns zugleich mit dem Stand der psychologischen, sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung vertraut. Sie will aufdecken,

"wie verlogen der äußere Schein von Wohlanständigkeit und Bürgerlichkeit vieler Familien der 50er und 60er Jahre war. Und dass es tatsächlich unter der Oberfläche heftig brodelte."

So individuell und privat die Erfahrungen sind, so sehr haben sie nicht nur das private, sondern auch das gesellschaftliche Leben der Betroffenen geprägt. Müller-Münch zitiert mit Recht die einschlägigen Studien, nach denen geprügelte Kinder im Schnitt häufiger ihrerseits gewalttätig werden als andere.

Aber die Autorin, selbst 68erin, stellt dieser Diagnose einen anderen, positiven Befund zur Seite. Ihrer eigenen Generation bescheinigt sie einen gelungenen Lernprozess.

Die Diagnose dürfte zwar im Großen und Ganzen zutreffen. Aber sie verfällt hier gelegentlich in einen so schönfärbenden Ton mütterlicher Selbstdarstellung, dass man wünscht, sie hätte das Urteil über die Erziehungsmethoden der geprügelten Generation ihren Kindern überlassen.

Das ist der einzige Schönheitsfehler des Buches. Dem Gesamteindruck tut er keinen Abbruch: Ingrid Müller-Münch hat ein aufklärendes, ja aufklärerisches Generationsporträt geschrieben. Eine unschätzbare Gelegenheit zur Selbstvergewisserung für alle, die im Wirtschaftswunderland groß geworden sind. Und eine empfehlenswerte Lektüre für Nachgeborene, die wissen wollen, was ihre Eltern oder Großeltern bis heute prägt.

Ingrid Müller-Münch: "Die geprügelte Generation -
Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen"

Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012
"Die geprügelte Generation" ist im Klett-Cotta-Verlag erschienen.
"Die geprügelte Generation" ist im Klett-Cottra-Verlag erschienen.© Klett-Cotta-Verlag