Die Finten der Identität

10.07.2010
Das erfundene Holocausttrauma eines Geigenbauers macht Skandal: Benjamin Steins zweiter Roman ist eine große Abhandlung über eine Vergangenheit, die sich nicht bewältigen lässt. "Die Leinwand" treibt ein Verwirrspiel mit der Unbeständigkeit der Erinnerung.
Das ist das verwirrendste Buch des Jahres. Die Verwirrung beginnt damit, dass man Benjamin Steins "Die Leinwand" sowohl von vorn als auch von hinten lesen kann. Die Geschichte von Amnon Zichroni endet auf Seite 193, die von Jan Wechsler auf Seite 204. Beide Geschichten sind in der Ich-Form erzählt. Dazwischen ist ein umfangreiches Glossar für die Fachausdrücke aus der jüdischen Kultur eingefügt. Beide Geschichten enden in Israel am Becken einer Mikwe, dem rituellen eiskalten Tauchbad "reinsten lebendigen Wassers"

Erzählt werden Beispiele von der Unzuverlässigkeit der Erinnerung. "Wenn die Erinnerungen nicht haltbar sind", heißt es, "bin ich selbst nicht haltbar". Erinnerung steht hier für die eigene Biographie, für die Identität des jüdischen Schicksals. Was weiß Amnon Zichroni über sich? Aufgewachsen im ultraorthodoxen Quartier Jerusalems, von der Schule geworfen, weil er bei der Lektüre von Wildes "Dorian Grey" erwischt wurde, aufgenommen vom streng gläubigen Zürcher Onkel Nathan, einem Juwelenhändler, und erzogen in jüdisch orthodoxen Schulen und Universitäten. Nach dem Studium wird Zichroni Arzt und Psychoanalytiker. Seinen Patienten Minsky, einen Geigenbauer mit einem Holocausttrauma, überredet Zichroni, seine Erinnerungen aufzuschreiben.

Minskys Buch "Aschetage" wird ein großer Erfolg, bis der Journalist Wechsler die Memoiren als Fälschung und tolle Lügengeschichte entlarvt und Minsky als verstoßenes Kind Berner Eltern enttarnt. Benjamin Stein spielt damit auf den realen Fall von Benjamin Wilmorski an, der sich in den neunziger Jahren eine Auschwitz-Vergangenheit erfand. Minsky lebt nach der Enttarnung von Wechsler in totaler Abgeschiedenheit. Die Geschichte endet mit einem Mord, erzählt in der kalten Manier des Kriminalromans.

Jan Wechslers Geschichte ist weitaus komplizierter, wenn auch weniger dramatisch. Ein Kurier bringt Wechsler, Ehemann und Vater zweier Kinder, seinen nach einem Flug von Tel Aviv nach München als vermisst gemeldeten Pilotenkoffer. Doch der Ich-Erzähler kann sich nicht erinnern, diesen Koffer jemals besessen zu haben. In einem verrückten Vexierspiel, in dem die Fäden scheinbar unentwirrbar auseinanderlaufen, wird sich Jan Wechsler wie ein Regisseur fühlen, der in einem Film lebt, den er selbst inszeniert hat.

Der Roman, der zweite des vierzigjährigen Benjamin Stein, der sich als Computerberater sein Geld verdient und in München lebt, ist vieles: ein Buch über ein orthodoxes Leben, das der Autor selbst lebt, der sich, in Ost-Berlin geboren, im Alter von 16 Jahren den Namen Benjamin Stein gegeben hat. Vor allem ist "Die Leinwand" eine große Abhandlung über Vergangenheit, die sich nicht bewältigen lässt, und über die Unbeständigkeit von Erinnerung und die Finten des Gedächtnisses. Benjamin Stein erzählt das alles in dem klaren nüchternen Stil des Realisten, der keinen Wert auf die Darstellung der Psyche, wohl aber auf detektivische Aufdeckung legt.

Das komplexe Gebäude dieses anstrengenden, verwirrenden Buches erfüllt die selbst gestellte Behauptung, dass "einmaliges Lesen keinen Nutzen" bringt. Ein besseres Buch über die Finten der Identität hat es in den letzten Jahren wohl nicht gegeben.

Besprochen von Verena Auffermann

Benjamin Stein: Die Leinwand
C.H. Beck Verlag, München 2010
202 plus 212 Seiten, 19,95 Euro