Die Familiengeschichte als Spiegel der Weltgeschichte

19.11.2010
Peter Handke verwendet für "Immer noch Sturm" Figuren aus seiner Familiengeschichte. Im Mittelpunkt steht ein "Ich", das ziemlich eindeutig die Konturen der konkreten Person Peter Handke hat, und drumherum seine Großeltern und deren fünf Kinder.
Peter Handke hat bereits in vielen seiner Texte mit Formen und Genres gespielt. Es gibt Theaterstücke von ihm, in denen kein einziges Wort gesprochen wird, es gibt Gedichte, die wie Prosa wirken, und es gibt Prosa, die abwechselnd theatralisch und poetisch ist. "Immer noch Sturm" scheint ein Paradebeispiel dieser literarischen Technik zu sein.

Das Buch hat keine Genrebezeichnung und keinen Untertitel. Nirgendwo gibt es einen Hinweis darauf, dass es sich um ein "Theaterstück" oder ein "Drama" handeln könnte, obwohl es im nächsten Jahr bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt werden soll. Man kann "Immer noch Sturm" auch als den inneren Monolog eines erzählenden Ichs lesen, als suggestiven Prosatext, bei dem die Bilder erst beim Lesen entstehen – man hat nicht unbedingt sofort Figuren vor Augen, die per se auf der Bühne stehen und sich durch Dialoge, Gesten und Handlungen charakterisieren.

Es sind Figuren aus der Familiengeschichte Handkes, die wir zum Teil bereits aus dem "Wunschlosen Unglück" kennen, dem Buch über den Tod seiner Mutter, oder aus der "Wiederholung", in der das österreichisch-slowenische Grenzgebiet eine herausragende Rolle spielt. "Später werde ich über all das genaueres schreiben", der berühmte Schlusssatz aus "Wunschloses Unglück", scheint als Vorgabe über allen Versuchen Handkes zu stehen, seine Herkunft und die spezifischen Bedingungen seiner Familie zu thematisieren.

Mit "Immer noch Sturm" wird dieses Vorhaben wohl keineswegs zu Ende sein. Im Mittelpunkt steht ein "Ich", das ziemlich eindeutig die Konturen der konkreten Person Peter Handke hat, und drumherum seine Großeltern und deren fünf Kinder, von denen eines die Mutter des erzählenden Ichs ist.

Es gibt die verschiedensten Situationen und Konstellationen, in denen diese Familienfiguren hier aufscheinen, Situationen, die das Ich träumt oder die ihm erzählt worden sind. Die Familiengeschichte wird hier ganz selbstverständlich zu einem Spiegel der Weltgeschichte. So sterben zwei Brüder im Ersten Weltkrieg. Ein für Handke wesentliches Moment ist die Beschreibung der Slowenen – seine Mutter gehörte der slowenischen Minderheit in Kärnten an, und er legt großen Wert darauf, dass just diese Slowenen den einzigen bewaffneten Widerstand gegen den Nationalsozialismus in "Großdeutschland" wagten.

Handkes Beschäftigung mit dem ehemaligen Jugoslawien, dem Traum- und Sehnsuchtsland seiner Jugend, hat hier ihren Ursprung. "Immer noch Sturm" zeigt weitere Facetten dieser Sehnsucht. Ein Bruder der Mutter spricht im Rückblick die zentralen Sätze, die dem Buch den Titel gaben – es sind Sätze, die die Geschichte als Verhängnis verstehen und sie doch gleichzeitig, in einem imaginären Raum, aufzuheben versuchen: "Es herrscht weiterhin Sturm. Andauernder Sturm. Immer noch Sturm. Ja, wir haben das Unrecht begangen – das Unrecht, hier, gerade hier, geboren zu sein."

Besprochen von Helmut Böttiger

Peter Handke: Immer noch Sturm
Suhrkamp, Berlin 2010
165 Seiten, 15,90 Euro