Die Facetten der Sixtinischen Madonna

Bernhard Maaz im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 25.05.2012
Raffaels Gemälde der Sixtinischen Madonna hat Geburtstag. Aus diesem Anlass widmet sich die Gemäldegalerie Alte Meister Dresden den Geschichten um das Werk. Nach Einschätzung des Direktors des Hauses bewegt sich diese Schau zwischen Bescheidenheit und Anspruch.
Stephan Karkowsky: Mit den Alten Meistern ist es wie mit der Klassik: Manche der größten Werke sind längst Pop geworden. Raffaels Engelchen etwa, zwei gelangweilte, süße kleine Lümmel. Der eine stützt das Kinn auf den Arm, der andere lehnt sich mit beiden Ellbogen auf den unteren Bildrand. Man findet sie auf Tellern, Tassen, Postern, Regenschirmen, Bettwäsche, T-Shirts, als Schmuck, Seife, Medaillons und Pulswärmer und vergisst dabei leicht mal, aus welchem Bild die eigentlich stammen: aus Raffaels Gemälde der Sixtinischen Madonna. Diesem Bild widmet Bernhard Maaz zum 500. Geburtstag eine Ausstellung als Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Guten Tag, Herr Maaz!

Bernhard Maaz: Guten Tag!

Karkowsky: "Die schönste Frau der Welt wird 500". Das ist kein ganz bescheidener Titel für ihre Ausstellung. Das ist dann wohl das, was man Blockbuster nennt, oder?

Maaz: Der Titel "blockbustered", falls es das Verb schon gäbe. Die Ausstellung wird zwischen Bescheidenheit und Anspruch changieren. Andreas Henning, der Kurator dieser Ausstellung, und wir hier in der Gemäldegalerie haben lange überlegt, was ist zu tun? Es wird eine Ausstellung, die alles sagt, was wir über die Sixtinische Madonna wissen wollen. Und es ist so wie mit der Nofretete in Berlin oder mit der Mona Lisa in Paris. Es sind die allbekannten Werke und es ist schon vieles darüber gesagt. Aber wie mit einer Faustaufführung: jede neue Aufführung kann neue Facetten bringen. Und diese Ausstellung wird eine Vielzahl von Facetten zeigen, über die Entstehung des Gemäldes, seinen Ankauf nach Dresden, das war immerhin das damals überhaupt je teuerst gehandelte Kunstwerk, was jemand gekauft hat. Über die Rezeption bis hin zu den heutigen Verkitschungen in allerlei Gestalt.

Karkowsky: Vor allem in Gestalt der Engel. Die kennen alle, dabei besetzen die ja nur, wenn wir uns das Bild mal anschauen, die unteren 40 Zentimeter. Eigentlich geht es ja um die zwei Meter darüber, also Maria, das Jesuskind im Arm, auf Wolken schwebend. Zu ihrer Linken die Heilige Barbara, zu ihrer Rechten Sixtus II., ein früher Papst und Märtyrer, der spricht mit Maria. Die linke Hand führt er dabei zu seinem Herzen, die Rechte zeigt auf den Betrachter. Weiß man eigentlich, was Raffael mit diesem Bild aussagen wollte?

Maaz: Diese Demutsgeste des Herzens sagt sicher in allererster Linie etwas über die Ergebenheit gegenüber der Gottesmutter, der Mutter Gottes, die Jesus Christus geboren hat und ihn hier mit allem Ernst und seiner Lebensbestimmung uns vorführt. Die Geste der rechten Hand gehört natürlich auch zu einem rhetorischen Vokabular, das man im 16. Jahrhundert und auch später noch allerorten verstand.

Es ist eine Verbindung zwischen der Person des Sixtus und dem Betrachter. Er ist also so ein Mittler zwischen den irdischen Betrachtern, zwischen uns als den Menschen, auf die er hinweist, fürbittend und vermittelnd, und der Mutter Gottes als der hohen Instanz. Das ist eine Bildregie, die so schlicht wie subtil ausgeklügelt ist und ganz überzeugend wirkt.

Karkowsky: Heute wird Raffaels Sixtinische Madonna mit der gleichen Verehrung bedacht wie etwa Da Vincis Mona Lisa. Das war aber nicht immer so, durfte ich lernen. 250 Jahre hing sie in einer Klosterkirche in Piacenza in Norditalien, nicht zugänglich für die Öffentlichkeit. Wie kam sie denn von dort nach Dresden?

Maaz: Kunstkäufe dauern heute oftmals nur wenige Minuten. Eine Auktion, bei der Gerhard Richter oder wer auch immer enorme Preise erzielt, kann nach zehn Minuten schon erledigt sein. Das ist der Spiegel des Kunstmarktes heute. Vor 250 Jahren dauerte das alles etwas länger. Um den Ankauf dieses Raffael hat man zwei Jahre gerungen. Es war, wie gesagt, es war der teuerste Ankauf und das Kloster wollte dieses Bild eigentlich nicht hergeben, weil es im Kultus, im gottesdienstlichen Kontext in Benutzung war. Aber da die sächsischen Herrscher wussten und ihre Agenten wussten, dass nicht mehr sehr viele Raffaels noch am Markt sein werden, haben sie gerungen bis zum Äußersten und den höchsten Preis gezahlt, und letztendlich dann, nach zwei Jahren, 1754 das Bild nach Dresden überführen können. Das war das Ende, das gloriose Ende einer jahrzehntelangen Sammlungspolitik der sächsischen Kurfürsten, der Könige von Sachsen und Polen, das war das I-Tüpfelchen, jetzt hatte man einen originären, singulären Raffael.
Karkowsky: Sie hören Bernhard Maaz, Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Heute Abend eröffnet er zum Geburtstag der Sixtinischen Madonna die Ausstellung "Die schönste Frau der Welt wird 500". Herr Maaz, hat sich eigentlich Friederike Seyfried bei Ihnen schon beschwert, die Direktorin des Ägyptischen Museums Berlin? Sie haben ja die Nofretete schon genannt, und sie sagt, das sei die schönste Frau der Welt.

Maaz: Ich glaube, Friederike Seyfried und ich, wir würden darüber schmunzelnd einen Kaffee oder zwei miteinander trinken und sagen: Gut, wenn es davon zwei gibt, ohne dass geklont werden musste.

Karkowsky: Sie zeigen in der Ausstellung auch auf, dass die Sixtinische Madonna nicht immer diesen Kultstatus hatte, sondern auch in Dresden zunächst einmal in die zweite Reihe kam. Wie kam das?

Maaz: Der Bewertungsprozess dieses Bildes nach dem Ankauf Mitte achtzehntes Jahrhundert ist höchst spannend. Wir haben gelernt, dass erst die Romantiker um 1800 dieses Bild entdeckt hätten. Wir haben im Zusammenhang mit dieser Ausstellung erarbeitet, dass dieser Prozess der Aufwertung in Stufen gegangen ist. In der Mitte des 18. Jahrhunderts, wir befinden uns im Zeitalter des Rokoko, aber wir geraten ganz bald in die Zeit der Empfindsamkeit. In diesem Zeitalter hat man Corregio über alles geliebt. Diese weichen, sentimentalischen, wunderbaren, schönen Figuren, und dann kam so ein gewisser Ernst und eine Strenge, die der strengen Renaissance, der Hochrenaissance eines Raffael entsprach, im Kanon mehr zur Geltung. Die Strenge der Klassik, das Ethos, die Ernsthaftigkeit als Begriffe eines Menschenbildes führten in der Zeit der 1780er Jahre und folgend dahin, dass man erkannt hat, dass dieser Ernst, der in der Madonna von Raffael enthalten ist, als Leitbild für die Zeit große Relevanz haben kann. Und da verdrängte Raffael Corregio von seiner Führungsposition. Natürlich ist das ein sukzessiv ablaufender Prozess. Natürlich sind Umwertungen dieser Art immer auch mit Rückschlägen verbunden. Das Auf und Ab ist höchst spannend. Um 1800 war sie in der Tat die meistgeschätzte Schöpfung der Dresdner Galerie, doch schon 1815 fängt Schopenhauer an zu quengeln und zu maulen, dass vielleicht der Zauber um dieses Bild doch nicht so groß wäre. Und diese Auf- und Abwertung, die Verbreitungen, auch die Urteile des späten 19. Jahrhunderts, alles das findet man teils in der Ausstellung in Kunstwerken und Reproduktionen und teils im Katalog durch Dokumente, Zitate et cetera.

Karkowsky: Wir können natürlich froh sein, dass wir die Sixtinische Madonna heute überhaupt betrachten können, denn sie hat einige Kriege überlebt, darunter vor allen Dingen auch den Zweiten Weltkrieg. Wie hat sie das denn geschafft?

Maaz: Viele Kunstwerke der Dresdner Gemäldegalerie sind bis heute verloren. Das kann man in unserem Gesamtverzeichnis nachsehen. Das sind hunderte. Aber viel wichtiger ist, dass viele, viele hunderte zurückgekommen sind 1955 über Berlin, über die Nationalgalerie auf der Museumsinsel. Das war eine Rückführung ohnegleichen, da kamen Schätze, die man zehn Jahre nicht gesehen hatte, nach Deutschland zurück, oder, ich müsste genauer sagen, in die DDR natürlich. So wie die Westberliner Museen auch in der Vergangenheit ihre Schätze zurückbekommen hatten. Das war ein Teil ja des frühen Kalten Krieges in seiner so seltenen positiven Form. Nachdem der Westen erklärt bekommen hatte, man bekäme Werke zurück, kamen auch die Sowjets und zogen nach. Das bedeutete, die Dresdner Schätze wurden zuerst noch zuhause in der Sowjetunion gezeigt, da gab es eine Million Besucher, die diese Werke gesehen haben. Weshalb die russischsprachigen Besucher bis heute einen guten Anteil unseres Publikums machen. Die haben uns das nie vergessen, was sie da an Schätzen gesehen haben. Es kam dann der Großteil der Galerie über Berlin nach Dresden, und ab 1956 war die Galerie wieder hier. Und seitdem hat das Bild das Haus nicht verlassen. Und so soll es auch bleiben.

Karkowsky: Würde es Sie eigentlich wundern, wenn viele nicht wegen der Madonna in Ihre Ausstellung kämen, sondern wegen der süßen kleinen Engelchen?

Maaz: Ja, high and low gehört immer zusammen. Warum nicht?

Karkowsky: Was machen die da eigentlich unten am Bildrand. Was für eine Funktion hatten die bei Raffael?

Maaz: Eine mehrfache. Die einfache, erste Funktion ist sicherlich, sie wollen, ähnlich wie Sixtus, zwischen uns Irdischen und dem himmlischen Sein vermitteln. Die zweite ist, was wir auch bei anderen Werken der Zeit von Raffael sehen können, sie bedienen einen Bildwitz. Sie irritieren produktiv. Sie wollen uns zeigen, dass man aufschaut zur göttlichen Hoheit. Und sie wollen auch Tiefenraum geben. So wie der grüne Vorhang die Vision der Madonna in den Engelswolken in die Ferne rückt und also ein Fenster ins Himmlische gibt, so auch die beiden Putten am unteren Bildrand.

Karkowsky: Bernhard Maaz, Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Heute Abend eröffnet er zum Geburtstag der Sixtinischen Madonna die Ausstellung "Die schönste Frau der Welt wird 500". Ab morgen fürs Publikum und dann bis zum 26. August. Herr Maaz, besten Dank!

Maaz: Vielen Dank Ihnen!

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