Die Eliten und der einfache Soldat

Rezensiert von Niels Beintker · 18.11.2012
Der umfangreiche Sammelband behandelt Mythos und Geschichte der Wehrmacht während des "Dritten Reiches" in über 60 Einzelstudien vielseitig und differenziert. Fragen der militärischen Strategien werden ebenso erörtert wie sozial- und strukturgeschichtliche Forschungsergebnisse, schließlich auch die Rolle der Armee als Teil des nationalsozialistischen Unrechtstaates.
Werner von Blomberg, der Reichswehrminister, plädierte für unbedingte Loyalität zum neuen Staat. Die Wehrmacht müsse im öffentlichen Leben mehr als bisher in Erscheinung treten, schrieb der General im April 1934 in einem Erlass. Und zwar …

"… als alleiniger Waffenträger der Nation, als im Sinne der Regierung Hitlers absolut zuverlässig, als im nationalsozialistischen Denken planmäßig erzogen"."

Das war einerseits gegen die rivalisierende SA gerichtet. Andererseits war es auch Ausdruck einer Selbstgleichschaltung, einer beginnenden Verschmelzung mit dem Nationalsozialismus. Die Wehrmachtsführung gefiel sich in der Vorstellung, eine von zwei tragenden Säulen des "Dritten Reiches" zu sein.

Dennoch dachte die alte Militär-Elite an andere Kriegsziele als die NS-Führung, namentlich Adolf Hitler, meint Rolf-Dieter Müller, Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam. So strebte sie die Wiederherstellung der Grenzen von 1914 an, die Rückgabe der Kolonien, eine deutsche Großmachtposition in Europa.

Rolf-Dieter Müller: ""Was sie übersehen haben, die führende Elite der alten Reichswehr jedenfalls, war, dass Hitlers rassenideologisches Programm weit, auch territorial-expansiv, über diese alte Vorstellung des Reiches hinausgehen würde."

Der umfangreiche Sammelband behandelt Mythos und Geschichte der Wehrmacht während des "Dritten Reiches" in über 60 Einzelstudien vielseitig und differenziert. Fragen der militärischen Strategien werden ebenso erörtert wie sozial- und strukturgeschichtliche Forschungsergebnisse, schließlich die Rolle der Armee als Teil des nationalsozialistischen Unrechtstaates.

Mancher Befund der Studien ist für Nicht-Militärhistoriker noch immer überraschend. Etwa die Einschätzung, dass die deutsche Armee, in den Jahren nach 1933 hochgerüstet und umfangreich ausgestattet, über keine militärische Strategie für einen Weltkrieg verfügte.

Rolf-Dieter Müller glaubt, dass die Wehrmacht durch Hitlers außenpolitischen Expansionismus in den Krieg hineingedrängt worden sei. Spätestens beim Überfall auf die Sowjetunion sei die strategische Hilflosigkeit der Armeeführung deutlich geworden.

Rolf-Dieter Müller: "Da ist im Grunde genommen dieses ganze Durchwursteln – sagen wir mal so – operativ strategisch in sich zusammen gebrochen.
Dann kommt der Kriegseintritt der USA. Damit war – das haben manche gesehen, aber nicht offen darüber gesprochen – der Weltkrieg eigentlich verloren. Man konnte ja nicht von einer Siegesparade in New York träumen und von einem Friedensdiktat in Washington. Das wäre ja völlig absurd gewesen.

Man konnte allenfalls auf ein Patt hinaus: dass man eine sogenannte Festung Europa verteidigte und den Angelsachen blutige Verluste beibrachte."

Vor allem aber fragt der Sammelband nach der Verantwortung der Wehrmacht für die Verbrechen des "Dritten Reiches". Gut 17 Millionen Männer dienten zwischen 1933 und 1945 in der Armee, zwei Drittel von ihnen während des Krieges. Eine der vielen bezeichnenden Stimmen ist die eines evangelischen Theologen und Militärseelsorgers. Viele der Soldaten seien im Kriege blind geworden, nicht in der Lage zu sehen, was geschehen sei. Es habe viel zu wenig Zivilcourage unter den Wehrdienstleistenden gegeben.

Spätestens mit dem Beginn des "Unternehmens Barbarossa", so urteilt Rolf-Dieter Müller, war die Wehrmachtsführung mitverantwortlich für die Verbrechen von historisch beispiellosem Ausmaß. Hitler habe die Direktiven gegeben, die Befehlshaber seien mehrheitlich und stillschweigend gefolgt.

Rolf-Dieter Müller: "Von diesen verbrecherischen Vorgaben des Jahres 1941 hat man sich im Grunde genommen bis zum Schluss gar nicht lösen können, weil dann in der Phase der Rückzüge dann noch einmal eine Radikalisierung stattfindet – ‚Verbrannte Erde‘, die rücksichtslose Zerstörung des besetzten Gebietes, dann eine Rolle spielte. Die Massenmorde, die in der letzten Kriegsphase stattfinden, mit der Räumung der Konzentrationslager und so weiter."

Wie verroht und gleichzeitig ergeben die Wehrmacht war, belegen ihre Einsätze gegen Partisanen, die brutalen Vergeltungsaktionen im sogenannten "Bandenbekämpfungsgebiet". Insgesamt, so ein Befund des Sammelbandes von Rolf-Dieter Müller und Erich Volkmann, sei die Armee ein williges Instrument für ein hemmungsloses, mörderisches Vorgehen im Hinterland gewesen.

Die Wehrmacht habe sich über alle militärischen Regeln hinweg gesetzt und sich weitaus stärker am rassenideologischen Massenmord beteiligt, als es in den vorangegangenen Beratungen von Militär und Reichssicherheitshauptamt angedacht war.

Dabei war ihre Grausamkeit weniger ideologisch begründet. Sie gehorchte vielmehr der Dynamik des Vernichtungskrieges. Jüngste Studien von Sönke Neitzel und Harald Welzer sowie von Felix Römer bestätigen diese These - auf der Basis neuer Aktenfunde.

Rolf-Dieter Müller: "Diese ganz extreme Situation, in der Soldaten sich befinden, wenn sie den Feind nicht erkennen können, wenn er die Zivilbevölkerung als Schutzschild nimmt und selbst Grausamkeiten begeht – dann haben wir eine spezielle Kriegsform, die mit Ideologie nur bedingt etwas zu tun hat.

Es gab diese Barbarisierung nicht nur an der Ostfront, sondern auch in Jugoslawien und zum Teil in Italien, wo es nicht um den Kampf gegen den Bolschewismus ging oder gegen das Slawentum – sondern wo einfach diese Form der Auseinandersetzung eskaliert ist und Massenverbrechen begünstigt hat."

Der Sammelband ist eine Neuausgabe, versteht sich immer noch als kritischer Zwischenbericht zu einem kontroversen Thema, mehr nicht - und bleibt doch ein wichtiges Buch. Er zeigt die Geschichte einer Armee, die sich selbst als tragende Säule des "Dritten Reiches" verstand und so die Verbrechen des Regimes mitgetragen und mitbegangen hat.

Zugleich plädieren Herausgeber und Autoren dafür, zu differenzieren, zu unterscheiden zwischen militärischen Eliten und einfachen Soldaten, zwischen solchen, die glühende Nationalsozialisten waren, und anderen, die glaubten, ihre Pflicht zu erfüllen. Die Komplexität der Wehrmacht wird die historische Forschung weiterhin beschäftigen. Und der Sammelband ist nach wie vor eine gute Grundlage dafür.


Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann: "Die Wehrmacht - Mythos und Realität" - Sonderausgabe
Oldenbourg Verlag München, 2012
Cover: "Die Wehrmacht" von Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann
Cover: "Die Wehrmacht" von Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann© Oldenbourg Verlag München