Die Droge Joyce

08.06.2012
Auch heute entfaltet die Prosa von James Joyce noch eine erhebliche Sogwirkung. Kurz vor dem Bloomsday erschienen nun zwei neue Ausgaben, für die der großartige Übersetzer Friedhelm Rathjen gewonnen werden konnte.
An "Joyce auf Deutsch" herrscht nicht eben eklatanter Mangel. Warum plötzlich zwei neue Ausgaben? Die erste Antwort ist marktimmanent: James Joyce starb 1941, seine Werke sind ab 2012 gemeinfrei, und sinnvollerweise lanciert man einen "neuen Joyce" im Frühjahr dicht am Bloomsday, dem Tag, an dem "Ulysses" spielt. Die zweite ist werkimmanent: Das meiste davon kann man gar nicht oft genug neu zu übersetzen versuchen. Joyces Prosa hat für Leser die Sogwirkung von Drogen. Je mehr der tausend grafischen, linguistischen, akustischen Schichten man ausgräbt, desto mehr lockt einen ihr Geheimnis. Und: Auch Joyce und seine Prosa sind von diesem Sog erfasst - dem Verlangen nach Steigerung bis zur Dekonstruktion.

Ein glücklicher Zufall also, dass zwei verschiedene Verlage denselben großartigen Übersetzer Friedhelm Rathjen an just diese beiden Texte gesetzt haben: Ein "Porträt des Autors als junger Mann" und "Geschichten von Shem und Shaun" sind Anfang und Ende eines Bogens. Das "Porträt" ist Joyces erster Roman, 1916 erschienen, 1926 von Georg Goyert und 1972 von Klaus Reichert übersetzt. Er erzählt in fünf Kapiteln vom Leben des Stephen Dedalus bis zum 16. Juni 1904. An dem Tag weiß er, er muss "Fort! Fort!" aus Dublin und dem Gestrüpp familiärer, geistiger und sexueller Nöte. Eine Art Bildungsroman in fast noch konventioneller Prosa, aber voller autobiografischer Bezüge, eingewobener Poetik und Spuren und Figuren, die in die kommenden Werke weisen.

Rathjens neue deutsche Fassung ist wunderbar lebendig und genau, erstarrt weder in Ehr- noch sonstiger Furcht und bietet viele feine Lösungen für Joyce'schen Witz oder knifflige Reime. Sie wirkt nur manchmal seltsam umständlich. Sicher, Deutsch ist oft länger als Englisch, aber warum muss We're kinsmen zu "Wir sind aus deinem Fleisch und Blut" werden, wo "Wir sind dein Fleisch" genügt hätte, oder the air is thick zu "die Lüfte sind berstend voll"? Das ist auch unrhythmisch, heikel beim extrem musikalischen Joyce.

Die drei "Geschichten" sind Splitter aus dem letzten Roman "Finnegans Wake", die Joyce 1929, zehn Jahre vor dessen Erscheinen, ausgekoppelt hatte. Die zwei Fabeln waren bereits 1989 auf Deutsch erschienen und wurden überarbeitet; zum ersten Mal übersetzt ist ein Auszug aus dem 10. Kapitel. Schon optisch ein widerspenstiges Etwas, der einzige Text im Roman mit zwei Randspalten und Fußnoten unterm schmalen Fließtext, dazu verschiedene Schrifttypen. Die Randkommentare spiegeln das ewig konkurrierende Brüderpaar Shem und Shaun, die oft kecken Fußnoten ihre Schwester Isabel. Das Ganze ist auch eine Parodie auf Kinder bei den Hausaufgaben - mit ungeheuer erwachsenen bis obszönen Inhaltsfetzen.

Jedes Wort klirrt vor Bedeutungsebenen, Querverweisen, Wortverdrehungen oder Sprachen, manche hört man, wenn man laut liest. Da muss beim Übersetzen viel verloren gehen. Ein Mikro-Beispiel gleich am Anfang: At maturing daily gloryaims! verballhornt das Jesuitenmotto Ad maiorem dei gloriam! Kurz AMDG. Rathjen rettet bravourös Sinnteile und Rhythmus: "Tat Matur ihm täglich glorisam!", muss aber das Akronym drangeben.

Das Immer-wieder-scheitern-Müssen in einer zweisprachigen Ausgabe transparent zu machen, ist ein Wagnis auch des Übersetzers, das jede krittelnde Überheblichkeit verbietet. Rathjen glückt viel, und er hatte, wie er im Nachwort offenbart, selbst oft Glück. Seine Übersetzung macht dieses "kühne Buch für kühne Leser" zugänglicher, gerade weil man immer wieder ins Original hineingesogen wird.

Besprochen von Pieke Biermann

James Joyce:
Geschichten von Shem und Shaun/Tales Told of Shem and Shaun
Drei Geschichten aus FINNEGANS WAKE, englisch und deutsch, übersetzt von Friedhelm Rathjen. Deutsche Erstausgabe
Suhrkamp/Insel, Berlin 2012
100 Seiten, 17,95 Euro

Ein Porträt des Künstlers als junger Mann
Auf Grundlage der von Hans Walter Gabler edierten textkritischen Garland-Ausgabe von 1993 aus dem irischen Englisch übersetzt von Friedhelm Rathjen; mit einem Nachwort von Marcel Beyer
Manesse Verlag 2012,
352 Seiten, 24,95 Euro
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