Die Dialektik der Albernheit

18.10.2011
Der Frankfurter Philosoph und Autor Martin Seel schafft es, wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen und gleichermaßen das Interesse einer breiten Leserschaft zu wecken. So auch in seinem neuesten Buch, in dem er menschliche Verhaltensweisen unter die Lupe nimmt.
Das Interesse an populärphilosophischer Lektüre war vermutlich noch nie so groß wie heute. Diesen Schluss lassen zumindest die aktuellen Bestsellerlisten zu. Der Marktführer "Wer bin ich und wenn ja wie viele" von Richard David Precht ist nur ein Beispiel unter vielen. In der Regel handelt es sich um Bücher, deren Autoren es verstehen, das philosophische Denken von der Last komplexer und abstrakter Theorien zu befreien, es so zu vereinfachen, zu veranschaulichen und in einen erzählerischen Duktus zu formen, dass es nicht nur einer spezialisierten Minderheit zugänglich ist, sondern dem breiten Publikum.

Die Werke, die so entstehen, halten sich einerseits in einer gewissen Nachbarschaft zur Ratgeberliteratur auf, zur ethischen Anweisung andererseits. Ihre Beliebtheit könnte sich etwa mit dem Bedeutungsverlust christlich-katechetischer Schriften und ihrem Schwinden aus dem Alltag moderner säkularisierter Gesellschaften erklären. Für die zeitgenössische Philosophie hat diese Entwicklung allerdings eine Folge: Sie zerfällt in einen akademischen und einen populärwissenschaftlichen Bereich. Ihre Protagonisten teilen sich in die Gruppe der Universitätsautoren und der Erfolgsautoren.

Martin Seel ist eine Ausnahme, denn er ist beides und somit einer der Wenigen, die den in der deutschen Kulturgeschichte unüblichen Spagat zwischen wissenschaftlicher Lehre und dem Zuspruch des breiteren Publikums bewältigen. Seel, geboren 1954, ist Professor für Philosophie in Frankfurt und veröffentlichte bereits 1995 mit "Versuch über die Form des Glücks" ein dem nichtakademischen Publikum zugewandtes Buch.

Seine neueste Veröffentlichung sucht stärker als jede zuvor die Balance zwischen abendländischer Philosophie und unterhaltsamer Verständlichkeit. Für diese garantiert schon die vom Autor selbst "Revue" genannte Form des Buches mit dem Titel "111 Tugenden. 111 Laster". Und aus genauso vielen, nämlich aus 111 kurzen, aphoristischen Kapiteln besteht der Text. In der Zahlenangabe stecken sowohl Witz als auch Methode des Buches. Denn eigentlich müssten es, dem Titel zufolge, doppelt so viele, nämlich 222 Kapitel sein, die eine Hälfte den Tugenden, die andere den Lastern gewidmet.

Nach dem Muster der klassischen Charakterologie betrachtet Martin Seel menschliche Eigenarten und menschliche Verhaltensweisen jedoch unter dialektischer Perspektive: Das Ehrgefühl, die Lebhaftigkeit, die Albernheit, das Vertrauen, die Bildung, die Rationalität, die Lust, die Pünktlichkeit, ja selbst Geiz und Aberglaube können vom Tugendhaften ins Lasterhafte kippen und umgekehrt. Martin Seels neues Buch ist in der Tradition und im Ton des moralischen Traktats verfasst, es ist zugleich Sittengeschichte, Temperamentenlehre und Phänomenologie mentaler Erscheinungen. Es besteht aus 111 klugen, leicht ironisch gefärbten und leicht zu lesenden Kapiteln. Dass ihm darüber hinaus auch etwas leicht Betuliches anhaftet, ist seinem Genre geschuldet, dem Genre jener Populärphilosophie, die harte Theorie weichspült.

Besprochen von Ursula März

Martin Seel: 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
284 Seiten, 18,95 Euro