"Die DDR war keine Stasi-Diktatur"

Moderation: Klaus Pokatzky · 11.03.2013
Die Diktatur in der DDR wurde nicht allein von der Stasi getragen, sondern von der SED und einer Vielzahl weiterer Institutionen - das jedenfalls behauptet der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Außerdem müsse die bislang angenommene Zahl der Inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter deutlich nach unten korrigiert werden.
Klaus Pokatzky: "Die Firma" oder "Horch und Guck", das waren noch die harmloseren Begriffe, mit denen die Bürger der DDR das Ministerium für Staatssicherheit bedacht haben. "Rote Gestapo" war da schon weniger harmlos. Sich selber nannten die am Ende gut 50.000 hauptamtlichen Mitarbeiter der Stasi am liebsten "Tschekisten" nach dem sowjetischen Geheimdienst "Tscheka". Nach ihren Schredderaktionen in der untergehenden DDR sind von ihnen Akten übrig geblieben, die aneinander gereiht 111 Kilometer ergeben. Im gesamten Bundesarchiv der Bundesrepublik liegen zu mehreren Jahrhunderten deutscher Geschichte vergleichsweise wenig: 300 Aktenkilometer.

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen hat nun das Buch "Stasi konkret" geschrieben. Guten Tag, Herr Kowalczuk!

Ilko-Sascha Kowalczuk: Schönen guten Tag!

Pokatzky: Wie viele Kilometer Stasi-Akten haben Sie geschafft bei Ihren Recherchen?

Kowalczuk: Das habe ich bisher noch nie nachgerechnet – sind bestimmt ein paar hundert Meter.

Pokatzky: Herausgepickt wurde aus Ihrem Buch sofort die Zahl der Inoffiziellen Mitarbeiter, der IMs des Ministeriums für Staatssicherheit. 189.000 sollen es ja am Ende der DDR gewesen sein, nach der bisherigen Forschung. Sie halten 80.000 weniger für realistischer, also knapp 110.000. Warum?

Kowalczuk: Also mein Buch stellt den Versuch dar, eine Gesamtgeschichte der Staatssicherheit im Rahmen der SED-Diktatur vorzulegen. Und im Rahmen dieses Buches habe ich mich auch mit der Frage der 91.000 hauptamtlichen Mitarbeiter logischerweise beschäftigt und mit einem der wichtigsten Instrumente der Stasi, der Inoffiziellen Mitarbeiter. Ich gucke mir die Kategorien genau an und frage, wie viel hat es da gegeben und von wie viel IMs ist die Staatssicherheit denn eigentlich selbst am Ende der DDR ausgegangen, und das waren 109.000.

Wobei ich gleich sagen muss, diese Zahlenspielerei, nach der sich das so anhört, die steht gar nicht so sehr im Fokus meines Interesses, sondern ich frage vielmehr: Gibt es eigentlich bisher eine qualitative historische IM-Forschung? Haben wir uns eigentlich bislang mehr als mit den Zahlen und mit den Kategorien der Staatssicherheit beschäftigt? Und komme zu dem Ergebnis, das gibt es bisher eigentlich nicht, und mahne einen neuen, einen historisierenden Blick auf das Spitzelwesen in der DDR an, weil ich nämlich zu der Auffassung gekommen bin, IM ist nicht gleich IM, und es gab IMs, die haben, so wie der IM ja arbeitet, wie wir das aus der Medienöffentlichkeit kennen …

Pokatzky: So als Denunzianten.

Kowalczuk: Als Denunzianten. Es gab aber auch ganz viele, die so nicht gearbeitet haben oder gar nicht gearbeitet haben. Und im Umkehrschluss komme ich dann auch zu der Auffassung und zu der Einsicht, dass es auch außerhalb der Staatssicherheit in der DDR sehr viel Denunziantentum gegeben hat.

Pokatzky: Aber wir haben uns ja auf diese Zahl jetzt wirklich festgelegt in den mehr als 20 Jahren Wiedervereinigung. 189.000 klingt ja auch noch weitaus pompöser als 110.000, die auch schon genug wären. Warum haben wir uns darauf so fokussiert? Hat irgendjemand davon auch profitiert, dass da möglicherweise noch etwas aufgebauscht wurde, aufgebläht?

Kowalczuk: In den Jahren nach der Revolution, in den 90er-Jahren, wurde ja insbesondere von der Politik immer lautstark vorgegeben, es käme darauf an, die DDR zu delegitimieren. Und ein ganzer Teil von Journalisten, von Politikern, aber auch von Fachkollegen waren ganz offenbar der Ansicht, dass man die DDR umso besser delegitimieren könnte, umso mehr man bestimmte Zahlenangaben, insbesondere zur Staatssicherheit, zu den Inoffiziellen Mitarbeitern, aber auch zu den politisch Verfolgten immer weiter in die Höhe treiben sollte. Und ich als Historiker habe nun die vornehme Aufgabe, so wie meine Kollegen, bestimmte Dinge einfach immer mal wieder kritisch zu hinterfragen, was anderes mache ich gar nicht.

Pokatzky: Wurden damit auch andere Verantwortlichkeiten für den Unterdrückungsapparat in den Hintergrund gespielt, also die Polizei, die Massenorganisationen und voran die Staatspartei SED?

Kowalczuk: Das ist der Kernansatz meines Buches, dass ich sage, die DDR war keine Stasi-Diktatur, sondern eine SED-Diktatur, und im Rahmen dieser Diktatur hat die Staatssicherheit eine, aber eben auch nur eine wichtige Aufgabe übernommen, die Diktatur zeichnete sich durch eine Vielfalt aus von Institutionen, die dazu beitrugen, dass die SED-Diktatur funktionierte. Das besonders Perfide von SED und Stasi bestand vielleicht darin, dass es ihnen in den 70er- und 80er-Jahren gelungen ist, eine Omnipräsenz in der Gesellschaft zu suggerieren, die so nie gegeben war. Die meisten Menschen haben sich im Alltag so verhalten, als wenn Stasi und SED überall anwesend seien, was aber in der Realität gar nicht der Fall war. Aber das ist praktisch der große Sieg der Diktatur gewesen.

Pokatzky: Wurde dann die Effizienz der Stasi auch überschätzt?

Kowalczuk: Es wäre ja geradezu aberwitzig, wenn wir feststellen, dass die DDR im Großen und Ganzen gerade wirtschaftlich und in vielen anderen Bereichen, Technologiebereichen, Bürokratiebereichen nicht funktionierte und ausgerechnet der Stasi wurde nun immer unterstellt, dass die ganz perfekt alles im Griff gehabt hat. Auch hier komme ich zu einem anderen Urteil und sage, die Stasi hatte genau die gleichen Mängel in der Effizienz, in der Bürokratie wie alle anderen Institutionen in der DDR. Und sie war mitnichten so perfekt wie wir es bis heute glauben.

Pokatzky: Sie verlangen eine größere Differenzierung in Ihrem Buch, auch im Umgang mit Stasi-Verdächtigungen gegen einstige Inoffizielle Mitarbeiter – wie soll das gehen?

Kowalczuk: Mir geht es vor allen Dingen darum, erstens darauf hinzuweisen, dass unser IM-Bild, das wir haben, ja nicht von einem historischen IM ausgeht, sondern gebildet wurde von den großen Debatten der 90er-Jahre. Ob einzelne, herausgehobene Persönlichkeiten nun IMs waren oder nicht und was sie konkret getan haben. Und diese herausgehobenen Beispiele haben unser IM-Bild geprägt. Und da sage ich, so funktioniert das nicht. Und zugleich weise ich darauf zweitens hin, dass diese ganze IM-Debatte eine Stellvertreterdebatte war. Jeder, der nicht das Label IM abbekam, konnte sich gewissermaßen zurückziehen und konnte sagen, also, die anderen waren's, ich war das ja nicht. Die anderen sind schuld. Und ganz nebenbei ist so immer wieder aus der historischen Verantwortung für diese Diktatur die eigentliche Hauptauftraggeberin, nämlich die SED und dann auch ihre Nachfolgepartei, die PDS, gewissermaßen relativ ungeschoren aus der ganzen Nummer herausgekommen.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk über sein Buch mit neuen Forschungen über die Stasi. Herr Kowalczuk, läuft etwas falsch in der Forschung und öffentlichen Bearbeitung der DDR-Geschichte bei uns?

Kowalczuk: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Wir standen in den 90er-Jahren alle unter dem Eindruck der Öffnung dieser Archive, und das muss man eben auch erst mal lernen, dafür gibt es in der Geschichte auch kein Pendant, dass wir sagen könnten, wir hätten von dort oder dort lernen können. Die Aufarbeitung ist bislang immer anders gelaufen. Das hatte etwas mit der besonderen deutsch-deutschen Teilungssituation zu tun. Und auch die Historiker, die Journalisten, die Politiker mussten erst mal lernen, mit diesen Akten umzugehen, und das bedarf eben Zeit, und heute ist, glaube ich, der Zeitpunkt gekommen, wo man eben nicht nur nüchterner darauf schauen kann, sondern auch gewissermaßen, ich will das mal so nennen, um ein berühmtes Wort zu adaptieren, man muss auch mal aus der Tiefe des Raumes kommen.

Wenn man sich mit einem Thema beschäftigt und man kriegt Akten vorgelegt, dann kriegt man logischerweise, und man konzentriert sich darauf, immer auf die besonders spannenden. Die Mühe der Ebene in der Forschung besteht aber darin, aber auch mal einen tiefen Blick in die Akten zu nehmen, und dann wird man ganz schnell feststellen, zum Beispiel bei IM-Akten, dass in ganz vielen IM-Akten wirklich nur Banalitäten drin stecken, teilweise in den Akten mehr über die IMs ausgesagt wird, als dass die IMs etwas über andere ausgesagt hätten. Dazu bedarf man aber eines anderen Blicks, eines anderen Interesses, und, ganz nebenbei gesagt, dazu bedarf man auch in unserer Erregungsgesellschaft ein bisschen Mut, um an dieser Stelle mal ein bisschen gegen den Mainstream zu bügeln.

Pokatzky: Es gibt auch die Gefahr, dass Ihnen dadurch eine Verharmlosung der Staatssicherheit vorgeworfen wird.

Kowalczuk: Dieses politische Argument kommt immer. Das gab es auch in den letzten 20 Jahren, ist das allen entgegengeschlagen, die sozusagen versuchten zu differenzieren. Ich als Historiker habe die vornehme Aufgabe, zu differenzieren und genau hinzuschauen und darf mich nicht davon beeindrucken lassen, dass vielleicht der eine oder der andere der Meinung ist, ich würde damit verharmlosen. Ich drehe ja den Spieß um, ich sage ja, diejenigen, die sich nur auf die Stasi konzentrieren und die DDR als eine Stasi-Diktatur wahrnehmen, das sind die eigentlichen Verharmloser der SED-Diktatur. Mit solchen differenzierteren Bildern, wie ich sie anmahne und wie es ja auch andere Kollegen machen, kommt man den Funktionsmechanismen viel mehr auf die Spur. Und das Bild wird nicht heller, unter Umständen wird es sogar noch düsterer.

Pokatzky: Gegenüber den Inoffiziellen Mitarbeitern treten die Hauptamtlichen ja fast in den Hintergrund. Sie beschreiben deren Profil: fast alle in der SED, zwei Drittel jünger als 40 Jahre, leben in eigenen Wohngebieten. Jeder zweite aus einem Funktionärshaushalt. Es gab regelrechte Stasi-Familien, und die haben unentwegt sich mit sich selbst beschäftigt. Niemand wurde so überwacht wie die hauptamtlichen Stasi-Leute. Bei alldem – hat sie davon etwas besonders überrascht?

Kowalczuk: Na ja, ich bin ja selber in der DDR groß geworden und hab natürlich genug mitbekommen. Auch in meiner Klasse gab es einen Jungen, dessen Vater bei der Staatssicherheit gearbeitet hat und überall hat man das mitbekommen, und insofern habe ich natürlich ein bisschen etwas von deren Alltag, auch von diesem verlogenen Alltag mitbekommen. Aber in der Masse, was das auch mit den Leuten anstellte, das war für mich schon eine Überraschung in den letzten Jahren, das mal genauer anzuschauen und diese Deformationen, die es da vielfältiger Art gab, das hat mich so schon überrascht.

Pokatzky: Was waren das für Deformationen, wie haben die sich geäußert?

Kowalczuk: Na ja, Sie müssen sich vorstellen, wenn Papa und Mama beide bei der Staatssicherheit arbeiteten, dann hieß das, dass die Kinder in der Lüge erzogen worden sind. Denn die Eltern durften zu Hause nicht darüber reden, was sie den ganzen lieben langen Tag treiben, geschweige denn, dass die Kinder mal ihre Eltern, was in der DDR ziemlich üblich war, mal auf der Arbeit besuchen kamen. Da wurde also befehlsmäßig am Abendbrottisch geschwiegen und gelogen, und die Kinder wiederum durften auch nicht gegenüber Freunden, egal ob deren Eltern bei der Stasi waren oder nicht, oder Schulkameraden über die Tätigkeit ihrer Eltern reden. Da wurde ja auch nicht gesagt, die sind bei der Stasi, sondern die waren Angestellte im Ministerium des Inneren. Wenn die in Urlaub gefahren sind, durften die nicht darüber reden. Also ein wichtiger Lebensbereich, ein wichtiger Alltagsbereich ist in diesen Familien einfach beschwiegen worden, und da kann man sich schon vorstellen, dass man aus dieser Nummer nicht besonders gesund heraus kommt.

Pokatzky: Ilko-Sascha Kowalczuk, herzlichen Dank. Ihr Buch "Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR" ist im Verlag C.H.Beck erschienen mit 428 Seiten und kostet 17,95 Euro. Tschüs!

Kowalczuk: Tschüs! Haben Sie vielen Dank!

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Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk© dpa / picture alliance / Arno Burgi