Die betäubte Gesellschaft

Welchen Schmerz sollten wir aushalten?

Eine Frau fasst sich mit geschlossenen Augen an die Nase.
Schmerz sei eine Art "Getroffensein", sagt der Philosoph Christian Grüny. © imago stock&people
Philosoph Christian Grüny im Gespräch mit Christian Möller · 25.02.2018
Erst seit etwa 100 Jahren können wir anästhesieren und Menschen müssen nicht mehr jeden Schmerz ertragen, sagt der Philosoph Christian Grüny. Dadurch stelle sich die Frage, was wir aushalten müssen und wann der Wunsch nach Betäubung berechtigt ist?
Jeder von uns hat schon einmal Schmerzen erfahren. Schon unsere Geburt ist damit verbunden, für Mutter wie Kind. Allerdings mehren sich heute die Möglichkeiten, Schmerzen zu betäuben. Man könnte meinen, Schmerzen zu empfinden, seit heute schlichtweg überflüssig. Aber berauben wir uns damit nicht auch einer existenziellen Erfahrung? Hat Schmerz einen Sinn?
Der Philosoph Christian Grüny warnt vor Verallgemeinerungen:
"Wenn man anfängt, über 'den Schmerz' zu reden, hat man eigentlich schon ein Problem, weil es den so ja nicht gibt – sondern es gibt sehr unterschiedliche Schmerzerfahrungen in unterschiedlichen Kontexten."

Zwischen vorübergehenden und chronischen Schmerzen unterscheiden

Grundsätzlich müsse man zwischen vorübergehenden Schmerzen und chronischen Schmerzen unterscheiden und davon wiederum die absichtlich zugefügten Schmerzen der Folter – kaum vorstellbar für jemanden, der sie nicht selbst erlebt hat. Trotzdem sei der alltäglich und in Maßen erfahrene Schmerz nichts prinzipiell anderes als die von außen zugefügten Schmerzen.
"Schmerz als solcher ist ja erstmal eine Art von Getroffensein von irgendetwas, vor dem ich versuche mich zurückzuziehen oder zu fliehen, was mir nicht gelingt. Was sehr unangenehm ist und was einen dringenden Handlungsimpuls auslöst: Es soll aufhören."
Lange Zeit galt Schmerz als "der beste Lehrmeister"'. In gewissem Sinne stimmt Grüny dem zu:
"Nichts brennt sich so ein, wie starke Schmerzen gehabt zu haben. Und wenn man sich an etwas erinnern will, dann ist das natürlich ein funktionierendes Mittel, auf das man aber nicht zurückgreifen sollte. Weil was sich damit einbrennt ist natürlich immer eine negative Erfahrung."
Damit verbunden sei eine Pädagogik, "die Unterordnung und Unterwerfung nicht nur fordert, sondern durch den Einsatz von Schmerz auch unmittelbar hervorbringt – und das brennt sich ein".

Wenn starke Schmerzen Erfahrung zerstören

Besonders starke Schmerzen können unsere ganze Wahrnehmung ausfüllen und jede abweichende Erfahrung unmöglich machen:
"Wenn Schmerzen eine gewisse Stärke überschreiten, sind sie dazu geeignet, das Gewebe unserer ganz alltäglichen Erfahrung auf eine Weise zu stören oder zu zerstören, dass fast nichts davon übrig bleibt – dass am Ende tatsächlich nur noch diese Schmerzerfahrung übrig bleibt und man sich selber kaum noch davon differenzieren kann."
Man hat keinen Schmerz mehr – man "ist" der Schmerz, befindet sich "im Schmerz". Diese Erfahrung transportiert etwa auch der englische Ausdruck "body in pain".
Menschheitsgeschichtlich gesehen waren Schmerzen die allerlängste Zeit unumgänglich. Erst seit dem Aufkommen der Anästhesie vor 200 Jahren ist es möglich, Schmerzen systematisch zu lindern. Ein klarer Fortschritt, so Grüny, der uns aber auch vor die Entscheidung stellt: "Welchen Schmerz sollten wir aushalten und welchen Schmerz sollten wir wegmachen?"

Schmerz ist ein "kultureller Kampfplatz"

Grüny diagnostiziert zwei entgegengesetzte, aber ähnlich verallgemeinernde Diskurse über "den Schmerz": Einerseits eine "Idee universeller Machbarkeit", verbunden mit dem Versprechen, Schmerzen seien absolut vermeidbar und unnötig – eine Illusion, meint Grüny. Tatsächlich gebe es so eine Art privilegierte Beziehung zwischen Schmerzen und Realität:
"Schmerz hat sowas wie einen Index von Wirklichkeit an sich: Was weh tut, ist wirklich da, was weh tut weckt meinen Widerstand und ist wirklicher als das andere, was mir völlig widerstandslos begegnet."
Das heiße aber andererseits nicht, dass der Schmerz zu suchen sei. Grüny warnt vor einer daraus abgeleiteten "Vergötzung" des Schmerzes, die davon ausgeht, "dass der starke Schmerz die Intensität und den existenziellen Charakter dieser Erfahrung irgendwie besiegelt." Häufig geht diese Haltung einher mit einer allgemeinen Kulturkritik, die das Aushalten von Schmerz als besonders "mannhaft" verklärt und in einer vermeintlichen "Verweichlichung" den "Untergang des Abendlandes" heraufziehen sieht.
Stattdessen müsse man abwägen: "An welchen Stellen sollte Schmerz beseitigt werden und an welchen nicht." Dabei sieht er ein grundsätzliches Dilemma im Sprechen über Schmerzen, zwischen notwendiger Allgemeinheit – um überhaupt eine Debatte führen zu können – und der Gefahr, dabei die jeweils unterschiedlichen Situationen und Schmerzen aus dem Auge zu verlieren und den Menschen "Vorschriften zu machen".

Schmerzen als Ausdruck der Verhältnisse

Andererseits droht die Konzentration auf Schmerzen als individuelle Erfahrung, die gesellschaftlichen und ökonomischen Ursachen bestimmter Schmerzphänomene aus dem Blick zu verlieren: Seien es Arbeitsunfälle auf Baustellen, die Rückenschmerzen von Büroarbeitern oder die noch viel miserableren Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern.
"Und wenn man dann immer nur über die Frage redet: 'Sollten wir den Schmerz bekämpfen oder nicht?', dann redet man eben nicht über die Verhältnisse, sondern über Symptome."
Einen weiteren Aspekt zeigt die gegenwärtige Opioid-Krise in den USA auf: Dort hat die Abhängigkeit von Betäubungsmitteln in den letzten Jahren bedrohliche Ausmaße angenommen, hundert Menschen sterben täglich an den Folgen. Die Mittel werden oft zunächst ganz legal verschrieben. Eine Ursache dieser epidemischen Verbreitung sieht Grüny auch im Profitstreben der Pharmaindustrie.
Zugleich sei die individuelle Schmerzbekämpfung durch die Einnahme von Opioiden auch ein Weg, die gesellschaftlichen Zusammenhänge außer Acht lassen zu können:
"Das ist schon eine Individualisierung von gesellschaftlichen Problemen."
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