Die Bärtige und die Schöne

Von Christiane Kreiner · 03.09.2012
Chiara Fumai ist Performancekünstlerin. Ihre Kunst kann man nicht an die Wand hängen, ihrer Kunst ist man ausgesetzt. Die documenta ist ihre erste große internationale Show, sie tritt mehrmals die Woche in verschiedenen Rollen auf.
"Was ich sagen wollte, es gibt eine Verbindung zwischen der Hexe und der Feministin und der Idee, dass man jedes Mal, wenn man etwas gegen die von Männern dominierte Kultur sagen will, die Klappe halten muss. Das sagt sie."

Chiara Fumai in Turnschuhen und T-Shirt Kleid. Ihr Zwergpinscher Pippi sucht noch seinen Platz. Sie erzählt von Annie Jones und Zalumma Agra, zwei Frauen, die im 19. Jahrhundert als lebendige Objekte im Museum ausgestellt wurden. Einige Schüler schauen irritiert. Kein leichter Stoff, aus dem die Performance-Künstlerin ihre Auftritte webt:

"Ich habe die beiden Frauen aus dem 19. Jahrhundert für diese documenta wieder zum Leben erweckt. Zalumma Agra war eine Frau mit einem riesigen Afro-Look. Beide Frauen Annie Jones und Zalumma Agra wurden im 19. Jahrhundert Barnum im Museum ausgestellt, einer Art Museum menschlicher "Absonderlichkeiten" in New York. Zalumma Agra als tscherkessische Schönheit, als besonders verführerische Frau. Und Annie Jones war eine bärtige Frau, sehr schön und elegant. Sie war die berühmteste bärtige Frau der viktorianischen Ära."

Wir stehen mitten in Chiaras Fumais Universum. Ein Hexenhaus im Auepark. Eine weiße Holz-Hütte, die Fenster vernagelt. Alles scheint aus den Fugen geraten: Die Möbel versinken im Boden. Bücher, Spiegelsplitter liegen herum. Im Nebenraum schwebt ein Tisch an der Wand. Ein Schrank ist halb geöffnet darin hängen handgeschriebene Briefe an Fäden. Hier tritt die Künstlerin zu festen Terminen während der documenta selbst auf. Mal in der Rolle der bärtigen Frau, mal in der Rolle der Zalumma Agra - zwei Frauen denen Chiara Fumai ihre Stimme zurückgibt.

Chiara Fumai fasziniert - sie ist grazil, energetisch. Die junge Frau vereinnahmt mit ihrer Präsenz. Ihre Bühnen hat sie immer selbst gewählt. Sie ist in italienischen Galerien aufgetreten - mit Videoarbeiten, Performances und Lectures. Und sie hat als Disk-Jockey gearbeitet, selbst Musik produziert, Techno Musik aufgelegt. In Clubs, in besetzten Häusern, in Galerien. In Italien, China, Holland, Kanada. Sie kennt die Geister der Nacht, die Dynamik des Rausches. Doch die Vergangenheit steift sie nur am Rand. Es klingt so. als wollte die Künstlerin diese Zeit eher hinter sich lassen: Sie ist documenta -Künstlerin. Zum ersten Mal. Hier und jetzt:

"Ich habe die letzten zehn Jahre nicht die ganze Zeit an die documenta gedacht Aber ich wollte unbedingt eine wichtige große Arbeit machen, nicht weil ich Erfolg haben wollte, sondern weil ich Geld und Raum und Freiheit wollte, um etwas wirklich Interessantes zu machen. Gerade wenn man Künstler ist kann man eben nicht alles machen, was man so vorhat, weil man Geld und Zeit dafür braucht. Carolyn Christov-Bagarkiev kam nach Rom, hat sich eine Ausstellung von mir angesehen - und danach sagte sie, sie wolle mich auf der documenta dabeihaben. Ich habe mich umgedreht und dachte: Meint die mich?"

Chiara Fumai ist 1978 in Rom geboren, in Bari aufgewachsen. Heute lebt sie vorwiegend in Mailand. Aber Fragen nach ihrer Biografie scheinen sie eher zu langweilen. Sie lebt dort wo sie arbeitet, sagt sie energisch. Jetzt 100 Tage in Kassel. Sie bewohnt ein kleines Appartement in einem Hochhaus am Rand der Stadt. Mit ihrem Hund Pippi. Und organisiert von hier aus ihre nächsten Projekte.

Ihre Mittel wählt sie immer wieder neu. Die Italienerin schafft immer wieder neue Szenarien. Sie schlüpft in andere Rollen, und setzt neue Mythen in die Welt um alte zu entlarven:

"Vor der Documenta habe ich zum Beispiel eine Arbeit gemacht mit dem Titel: Chiara Fumai präsentiert Nico Fumai. Da habe ich meinen Vater zu einem sehr berühmten italienischen Sänger gemacht, um die Geschichte der italienischen Disco-Musik nachzuerzählen. Diese Musik wurde in Italien produziert, aber das italienische Radio behauptete damals, sie komme aus Amerika. Und das war total falsch. "Italo Disco" ist eine sehr schöne und verrückte Musik. Diese Geschichte drum herum hat bislang keiner erforscht."

Die Fiktion interessiert sie weitaus mehr als alles Dokumentarische, sagt die junge Frau. Sie lächelt. Und ist sich dabei ganz sicher. Chiara Fumai hat das Talent zur Inszenierung. Die Auftritte in ihrem Hexenhäuschen auf der Karlssaue sind intensiv. Die Besucher werden zur Seance einzeln eingelassen. Sie müssen sich herein trauen. Mal trägt sie Afrolook wie Zalumma Agra, mal einen trägt aufgeklebten langen Bart. Eine Hommage an die beiden vergessenen Frauen Annie Jones und Zaluma Agra - und eine sehr persönliche Begegnung für jeden documenta- Besucher mit der Künstlerin.

Gesichter einer Ausstellung
Künstler und Künstlerinnen auf der documenta
Mehr zum Thema