Die Atomkraft ist tot

Lang lebe die Atomkraft in Litauen

Außenansicht des litauischen Atomkraftwerkes bei Ignalina.
Außenansicht des litauischen Atomkraftwerkes bei Ignalina. © picture alliance / dpa / EPA/EUROPEAN COMMISSION
Von Andrea Rehmsmeier · 03.09.2015
"Milliardengrab" wird das litauische Atomkraftwerk Ignalina in der internationalen Presse genannt. Mit Litauens Beitritt zur EU mussten die Reaktoren aus Sicherheitsgründen vom Netz genommen werden. Derweil propagiert die Regierung ein mögliches neues Atomkraftwerk.
Bewaffnete Uniformierte, chipgestützte Sicherheits-Drehkreuze, Ausweiskontrollen, Strahlenmessungen: Wer Ignalínabesichtigen will, der macht einen Ausflug in einen Hochsicherheitstrakt – und das, obwohl Litauens einziges Atomkraftwerk seit Jahren stillgelegt ist. Besucher wie Mitarbeiter müssen ihre Straßenkleidung bis auf die Unterwäsche ablegen und stattdessen in einen blütenweißen, nach Desinfektionsmittel riechenden Overall schlüpfen. Der Meiler liegt in der dünn besiedelten Gegend ganz im Osten Litauens, im Grenzgebiet zu Lettland und Weißrussland. Die Rückbauarbeiten laufen auf Hochtouren.
"Wir stehen hier im Zentrum der Turbinenhalle. Sie ist riesig: 600 Meter lang. Der Bereich dort drüben gehörte früher zum zweiten Reaktorblock, da hinten sehen Sie immer noch die Turbinen. Hier sieht es fast genauso aus wie zur Betriebszeit. Und wenn Sie sich jetzt umdrehen, sehen Sie den anderen Teil der Halle. Dieser gehört zum ersten Reaktorblock. Dort sind die Turbinen fast vollständig zurückgebaut. Dahinten stehen die Dekontaminierungsanlagen, wo die Maschinenteile zerlegt, und die verstrahlten Oberflächen abgetragen werden – sofern das notwendig ist."
Kraftwerkssprecherin Ovídia Morzencúite steht auf einer Brücke, die quer durch die Turbinenhalle führt. Rostige Maschinenteile, verrußte Container, Kabelstränge, Hebebühnen, Gitterrost-Stiegen: Unter ihren Füßen tut sich eine bizarre Industrielandschaft auf, die auf mehreren Ebenen Einblick in die Eingeweide des 80-er-Jahre-Anlagenparks bietet. Wie ein Damoklesschwert schwebt über der Szenerie ein Haken von der Größe eines Pkw – bereit, die frisch zerlegten Anlagenteile herauszuheben und in die Dekontaminierungs-Anlage zu transportieren. Arbeiter bedienen Brückenkräne und Hebebühnen.
"Natürlich blutet einem das Herz, wenn man das, was man mit eigenen Händen aufgebaut hat, jetzt selbst wieder demontieren muss. Aber solange wir verdienen, und unsere Familien ernähren können, werden wir arbeiten. Solange wir am Leben sind, ist alles gut."
Jurij ist Schlosser. Anfang der 1980er-Jahre, erzählt der 55-Jährige, ist er aus der Ukraine in die Sowjetrepublik Litauen gezogen, um das Atomkraftwerk zu bauen. Mit Stolz erinnert er sich an den Tag, als im Jahr 1984 der erste Reaktor hochgefahren wurde. Seitdem lebt er mit seiner Familie im nahegelegenen Visagínas – eine Retortenstadt, die speziell gebaut worden war, um den Ignalina-Angestellten ein privilegiertes Leben zu ermöglichen.
Junge Familien aus allen Teilen der Sowjetunion machten Visaginas zu einer multikulturelle Stadt mit 42 Nationalitäten: Russen, Weißrussen und Ukrainer, Polen, Balten, Tataren, Armenier – allesamt "Energetiker", wie es damals hieß: Menschen mit hoher Bildung, die russisch sprachen und von der Aufgabe beseelt waren, für ihr Land Energie zu produzieren. Heute gehört Jurij zu den letzten Verbliebenen dieser alten Garde: einer von 2000 Mitarbeitern der ehemals 5000-köpfigen Belegschaft, die für die Rückbauarbeiten übernommen wurden. Viele andere sind weggezogen. Oder sie leben von der Hoffnung, die litauische Regierung werde endlich ihren lang angekündigten Plan umsetzen, und ihnen ein neues Kernkraftwerk bauen.
"Das wäre natürlich wunderbar. Die Leute würden nicht mehr von hier wegziehen, unsere Kinder würden bleiben, und auch für die Enkel gäbe es Arbeit. Mein Sohn lebt heute mit seiner Familie in Vílnius. Aber wenn es hier Arbeit gäbe, dann würde er vielleicht zurückkommen."
Atomkraft in der Sowjetzeit
Atomkraft – für die Menschen Visaginas bedeutet das Vergangenheit und Zukunft. Zur Sowjetzeit deckte der Strom, den die beiden Ignalina-Meiler produzierten, fast den gesamten Energiebedarf Litauens. Doch als die Sowjetunion zerfallen war, stuften die westeuropäischen Nuklearexperten die beiden Reaktoren vom Typ RBMK – graphitmoderierte Siedewasserreaktoren wie der Katastrophenreaktor von Tschernobyl – als zu risikoreich ein.
Brüssel machte ihre Abschaltung zur Bedingung für den EU-Beitritt der inzwischen unabhängigen Republik Litauen. Im Jahr 2004 wurde der erste Reaktorblock heruntergefahren, fünf Jahre später folgte der zweite.
"Im Moment rechnen wir, dass der Rückbau im Jahr 2038 beendet sein wird – inklusive Gebäudeabriss und Fertigstellung sämtlicher Zwischenlager. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Arbeit wir noch vor uns haben!"
Die Ursache aller Fehlkalkulationen und Verzögerungen – zumindest aus Sicht der Ignalina-Betreiber – ist ein Zwischenlager namens "B1": Eigentlich hätte es pünktlich zur Abschaltung des zweiten Reaktors in Betrieb genommen werden sollen, um die hoch radioaktiven Kernbrennstäbe aufzunehmen. Den Bauauftrag hält ein deutsches Konsortium: Die Gesellschaft für Nuklearservice, die den deutschen AKW-Betreibern gehört, sowie die hessische Spezialfirma Nukem Technologies, die sich mittlerweile in Besitz der staatlichen russischen "Atomstróyexport" befindet. Doch ein Streit um zu erbringende Leistungen und um Geld brachte die Bauarbeiten zum Erliegen. Das Zwischenlager ist bis heute nicht fertig – und das hat Folgen für die Sicherheit.
Die Reaktorhalle von Block 1 ist ein riesiges, fensterloses Gewölbe. Sein Zentrum bildet ein Feld, das von weiten einem Fußboden-Mosaik ähnelt. "Der Reaktor", erklärt die Ignalina-Sprecherin, und deutet mit dem Finger auf die unscheinbaren quadratischen Felder am Boden, wo sich in der Tiefe des Erdreichs der Reaktor befindet.
Durch die Kanäle konnten die Kernbrennstäbe direkt in die aktive Zone eingeführt werden: Uranbrennstoff in Spaghetti-Form, sieben Meter lang. Heute ist er aus dem Reaktor entfernt, darum ist die Halle für Besichtigungen freigegeben. In Block zwei jedoch steht diese heikle Phase des Rückbaus noch bevor: Weil das Zwischenlager nicht fertig ist, können die Brennelemente nicht aus dem Reaktor entnommen werden. Und auch die stark strahlende Hinterlassenschaft aus dem ersten Meiler ist bis heute provisorisch im Wasser der Abklingbecken untergebracht – nun schon sechs Jahre länger als eigentlich vorgesehen.
Kaum öffentliche Debatte über Atomstrom
Liegt die Sicherheit der alten Meiler in vertrauenswürdigen Händen? Wird die Europäische Union die Mehrkosten zahlen, oder bleibt der Löwenanteil am Ende an der kleinen litauischen Volkswirtschaft hängen?
In der öffentlichen Debatte um das Für und Wider von Atomkraft, die in Litauen gerade geführt wird, spielen Fragen wie diese bislang kaum eine Rolle. In der Hauptstadt Vilnius bewegen andere Probleme die Energiepolitik der Regierung: Der Ukraine-Krieg und Litauens Kampf um Unabhängigkeit vom Kreml.
Am Rande des Lukiškės-Platzes – dort, wo damals, in den aufgewühlten Tagen der litauischen Unabhängigkeitserklärung, ein Kran eine monumentale Lenin-Statue von ihrem Sockel gebrochen hatte, steht heute das "Denkmal für die Opfer der sowjetischen Besatzung":
Zur Pyramide aufgetürmte Steine, die an einen prähistorischen Grabhügel erinnern. Schräg gegenüber erhebt sich die mausgraue Fassade des Ministeriums für Energiewirtschaft. Die bösen Erinnerungen an die Zeit, als Litauen unter der Herrschaft des Kremls stand, beeinflussen bis heute die Politik. Zwar ist die Republik Litauen seit inzwischen 25 Jahren ein selbstständiger Nationalstaat – die energiepolitische Unabhängigkeit aber ist noch längst nicht erreicht, sagt Energieminister Rókas Marsiúlis.
"Seit der Sowjetzeit sind wir voll integriert in die alten sowjetischen Stromnetze, Gas- und Ölpipelines. Wir waren zu 100 Prozent abhängig von Rohstofflieferungen aus Russland. Dann kam die Unabhängigkeit – und im Energiegeschäft mit Russland trat der politische Aspekt immer weiter in den Vordergrund."
Abhängig sein von einer Großmacht, die ihre Energielieferungen an politische Willfährigkeit knüpft – das fürchtet Minister Marsiulis mehr als alles andere. Doch auch heute noch zwingen ihn die bestehenden Pipelines und Stromleitungen, den Löwenanteil der Energie aus Russland zu importieren. Angesichts des Gasstreits zwischen Moskau und der Ukraine, der in den vergangenen Jahren so dramatisch eskaliert ist, hat die litauische Regierung keine Kosten und Mühen gescheut, um neue Energielieferanten zu gewinnen.
Seit Anfang 2015 macht ein schwimmendes Terminal für verflüssigtes Erdgas dem Pipeline-Gas des russischen Staatskonzerns Gazprom Konkurrenz. Und der litauische Netzbetreiber Litgrid baut mit Hochdruck an neuen Stromtrassen, die die kleine Republik an das westeuropäische Energienetz anbinden sollen. Auch die Atomkraft, sagt der Energieminister, könnte in Litauen eine Renaissance erleben.
"Litauen plant ein neues Nuklearprojekt, das Kernkraftwerk Visaginas. Wir haben bereits einen Investor und einen Technologiezulieferer gefunden: Hitachi. Von mehreren politischen Parteien Litauens wurde entschieden, das Projekt zusammen mit Lettland und Estland durchzuführen."
Propaganda der Regierung
Ein neues Kernkraftwerk an dem altbekannten Nuklearstandort – diese Idee propagiert die litauische Regierung seit Jahren. Die Bewohner von Visaginas setzen all ihre Hoffnung auf die Arbeitsplätze, die damit verbunden wären – alle anderen aber haben sich in der Atomfrage skeptisch gezeigt: In einem Referendum im Jahr 2012 stimmten 65 Prozent der Litauer gegen das AKW-Projekt. Rechtlich bindend allerdings war das nicht. Und der Ukraine-Krieg, glaubt Minister Marsiulis, hat der Bevölkerung die Unverzichtbarkeit eigener Energiequellen dramatisch vor Augen geführt. Er hofft, dass die Verhandlungen mit Lettland und Estland positiv verlaufen. Dann könnten ab dem Jahr 2018 die Bauarbeiten beginnen.
"Jede Seite wird für sich selbst die Entscheidung treffen müssen, ob sie Vertragspartner werden will oder nicht. Aber wenn es zu einem Einvernehmen kommt, dann wird das Projekt umgesetzt werden."
Könnte es tatsächlich so kommen, dass die litauische Regierung bei Visaginas ein neues Atomkraftwerk baut, wo sie doch im Milliardengrab Ignalina Kosten und Zeitplan nicht annähernd im Griff zu haben scheint? Vaidá Pilibaityte kann kaum glauben, was da neuerdings in den Nachrichten zu hören ist.
"Damals, im Vorfeld des Referendums über ein mögliches neues AKW im Jahr 2012, gab es eine aufgeheizte öffentliche Debatte. Und, das kann ich offen sagen, es gab auch eine staatlich finanzierte Propaganda-Kampagne Pro Atomkraft. Dabei muss man wissen, dass die Anti-Atom-Bewegung in Litauen eine lange Tradition hat: Schon die litauische Unabhängigkeitsbewegung der späten 80er-Jahre stand den Umweltschützern sehr nahe, und die Leute haben mit Menschenketten gegen Ignalina protestiert. Doch im Jahr 2012, als wir öffentlich diskutiert haben, ob wir von neuem ein Atomkraft produzierender Staat werden wollen, wurden die kritischen Stimmen auf einmal als ´Russische Spione` diskreditiert."
Dass die energiepolitische Unabhängigkeit von Russland tatsächlich ein wichtiges strategisches Ziel ist, das bezweifelt auch Vaida Pilibaityte nicht. Aber die wirtschaftlichen Unwägbarkeiten und immensen Umweltrisiken, die Atomkraft mit sich bringt, glaubt sie – das ist ein zu hoher Preis.
"Was für eine Energiestrategie haben wir denn – abgesehen davon, dass wir unabhängig von Russland werden wollen? Das ist der Punkt, an dem hier jede Diskussion endet. Ist Atomkraft wirklich der richtige Weg? Sind wir bereit, die Kosten dafür zu tragen? Diese hektischen, verzweifelten Entscheidungen über strategische Großprojekte – sie verstellen uns den Blick dafür, dass wir ein kleines Land mit begrenzten Ressourcen sind. Wir sind wie besessen von diesen teuren Projekten. Aber wie lange können wir das durchhalten? Sind das wirklich nachhaltige Lösungen?"
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