Die angebliche Hexe war eine Bäckerin

18.09.2007
Der Reclam Verlag macht sich seit langem verdient um deutsche Pflichtlektüren. Wir alle lernten unsere Klassiker zuerst durch seine kleinen gelben Ausgaben kennen. Man muss es in diesem Zusammenhang sehen, wenn jetzt Hans Traxlers maßstabsetzende Arbeit zur Märchenarchäologie, mit der dieses Fach praktisch begründet worden ist, nach mehr als vierzig Jahren ihren Weg in die gelbe Reihe Reclams gefunden hat.
Als "Die Wahrheit über Hänsel und Gretel" 1963 erschien, war das Echo ungeheuer. Warum? Es hatte etwas auf sich mit jener Wahrheit: Hans Traxler berichtet über die Forschungen von Georg Ossegg. Dieser Frankfurter Studienrat war bei seiner Beschäftigung mit Grimms Märchen auf Unstimmigkeiten gestoßen. Irgendwie erschien es ihm, als verdecke der Text von "Hänsel und Gretel" etwas.

Zum Beispiel soll der Vater der Kinder, obwohl von Beruf Holzhacker, Feuer im Wald gemacht haben. So etwas tun Holzhacker außerhalb Griechenlands nie. Oder: Die Hexe soll gerufen haben "Knusper, knuper kneischen", das aber ist thüringischer Dialekt, wie passt das zur angeblichen Herkunft des Märchens aus dem Spessart?

Ossegg dachte sich, was für Homer recht war, sollte auch für die Brüder billig sein, und suchte anhand von Hinweisen im Märchen und frühen Illustrationen nach dem tatsächlichen Ort des Geschehens. Und er wurde fündig. Auf dem Engelesberg bei Aschaffenburg gelang es ihm, die Überreste des sogenannten Hexenhauses auszugraben. Unter ihnen fanden sich auch das Skelett einer Frau sowie Lebkuchenreste. Und jetzt wurde die Sache sensationell: Denn sie war nicht durch Verbrennen gestorben, sondern erwürgt worden.

Osseggs Theorie: Die angebliche Hexe war eine Bäckerin des 17. Jahrhunderts aus dem Thüringischen, die über eine besondere Rezeptur für Lebkuchen verfügte. Hänsel und Gretel aber waren keine Kinder, sondern ein konkurrierender Bäcker und seine Schwester, die gemeinsam Katharina Schrader, so war der in einem Hexenprozess dokumentierte Name der Einsiedlerin, umgebracht hatten.

Mit zahllosen Dokumenten und Funden untermauerte Ossegg diese These. Die Brüder Grimm aber standen als Helfershelfer einer großen Geschichtsfälschung da, an der sie sich wohl beteiligt haben, weil das Märchen so poetischer und kindgerechter schien.

Der atemraubende Bericht über diese Forschungen liest sich auch heute noch frisch wie am ersten Tag. Hans Traxler hat ihn mit einem Nachwort versehen, das alles Wissenswerte über die Rezeptionsgeschichte seines unglaublichen Buches mitteilt. Sogar wegen Betruges wurde gegen ihn ermittelt.

Später wurde sein Buch übrigens auch noch verfilmt, mit Jean Pierre Léaud in der Rolle des Georg Ossegg, aber die Lektüre des Originals ist vorzuziehen. Man kann sich freuen, dass es als fortwährendes Zeugnis echter romantischer Wissenschaft nun seinen Platz im Kanon der Schullektüre gefunden hat.

Rezensiert von Jürgen Kaube

Hans Traxler, Die Wahrheit über Hänsel und Gretel
Reclam Verlag, Stuttgart 2007, 149 Seiten, 4,90 Euro