Didier Eribon: "Gesellschaft als Urteil "

Paradoxien der Scham

Buchcover: Didier Eribon "Gesellschaft als Urteil"
Mit dem Klassenbegriff betont Eribon, wie fixiert und abgeschottet die "populären" und die "bürgerlichen" Klassen in sich sind. © Suhrkamp Verlag / Deutschlandradio
Von René Aguigah · 19.10.2017
Das Buch des französischen Soziologen Didier Eribon "Gesellschaft als Urteil" beschäftigt sich mit der Scham über die soziale Herkunft oder die sexuelle Orientierung. Auf der Frankfurter Buchmesse hatte er mit seiner Kritik an Präsident Macron für Schlagzeilen gesorgt.
"Not my president": Vergangene Woche griff Didier Eribon nach diesem Slogan der US-amerikanischen Proteste gegen Donald Trump und schleuderte ihn seinem eigenen Staatsoberhaupt entgegen. Emmanuel Macron? "Nicht mein Präsident", denn die konsequent arbeitnehmerfeindliche Politik der Regierung Macrons zerstöre die kulturellen Grundlagen Europas. Während Macron bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse mit seiner Rede brillierte, hallte Eribons Anklage durch die Öffentlichkeit, erst veröffentlicht in der "Süddeutschen Zeitung", dann mündlich erneuert auf dem Blauen Sofa von Deutschlandfunk Kultur. Ein Ruf, wie ein Echo auf jenes "J'accuse", das Émile Zola dem französischen Präsidenten vor 120 Jahren entgegenrief.

Wir sprachen mit Didier Eribon auf dem Blauen Sofa der Frankfurter Buchmesse:
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Der französische Soziologe Didier Eribon im Gespräch mit René Aguigah von Deutschlandfunk Kultur über sein neues Buch "Gesellschaft als Urteil" auf dem Blauen Sofa der Frankfurter Buchmesse 2017. Didier Eribon wurde mit seinem Buch "Rückkehr nach Reims" bekannt. 
© Deutschlandradio / David Kohlruss
Es ist noch nicht lang her, da hätten die deutschen Feuilletons das Genre der öffentlichen Anklageschrift erkannt, das französische Intellektuelle seit Zola so glänzend beherrschen – inklusive seiner gattungsbedingten Einseitigkeit –, und sie hätten nach den zwei, drei Körnchen Wahrheit gesucht, die darin stecken. Erstaunlich, dass diese Feuilletons Eribons Intervention dieser Tage so einhellig abkanzelten - als altlinks; und seine Weigerung, im Publikum der Messeeröffnung mit Macron zu sitzen - als undemokratisch. Erstaunlich auch deshalb, weil dieselben Feuilletons im vergangenen Jahr einander in ihren Lobeshymnen über Eribons Buch "Rückkehr nach Reims" übertrumpft haben – ein Buch, dem man die politische Haltung seines Autor auf jeder Seite anmerkt.

Herkunft aus dem Arbeitermilieu

"Gesellschaft als Urteil", Didier Eribons neues Buch, kann man lesen, ohne "Rückkehr aus Reims" zu kennen. Man kann allerdings nicht davon berichten, ohne das ältere Buch aufzurufen. Im Original 2009 erschienen, verwebt "Rückkehr nach Reims" unterschiedliche Stränge zu einem faszinierenden Ganzen. Der 1953 geborene Soziologe Eribon reist in seine Heimatstadt in der Provinz, begegnet seiner Mutter, die er ewig nicht gesehen hat; verpasst den verhassten Vater, der soeben gestorben ist. Eribon beschreibt das Arbeitermilieu, dem er entstammt und das er als schwuler Pariser Intellektueller weit hinter sich gelassen hat. Er interpretiert, warum diese Arbeiter einst kommunistisch wählten, heute dagegen nationalistisch; er analysiert, wie das französische Bildungssystem sozialen Aufstieg verhindert; er denkt über Scham nach: Scham über die soziale Herkunft, über die sexuelle Orientierung. Das alles und noch viel mehr findet sich in "Rückkehr nach Reims". Und "Gesellschaft als Urteil", im Original von 2013, ist eine ausführliche, belesene Reflexion auf das ältere Buch. Mit einem sperrigen Wort: eine soziologisierende Meta-Auto-Analyse.

Dynamischer Klassenbegriff

Zwei Beispiele, die Eribon eingehend untersucht. Er sieht sich die Paradoxien der Scham an: inwiefern er sich seiner Herkunft weiter schämt, obwohl er diese Reims-Recherche erarbeitet und veröffentlicht hat: "Man kann ein Buch über die Scham geschrieben haben, ohne sie zu überwinden." Nicht weniger zentral sein Blick auf soziale Klassen. Geschenkt, dass die meisten Soziologien seit Jahrzehnten eher von "Schichten" oder "Milieus" sprechen. Mit dem Klassenbegriff betont Eribon, wie fixiert und abgeschottet die "populären" und die "bürgerlichen" Klassen in sich sind. Selbst wenn Aufstiege hier und da gelingen, bleibt das Arbeiterkind als solches an den sprichwörtlichen feinen Unterschieden erkennbar. Zugleich dynamisiert Eribon den Klassenbegriff, indem er ihn für Zugehörigkeiten etwa zu Geschlechtern oder Ethnien öffnet.
Seine Methode? Die Wiederlektüre des eigenen Reims-Buches, die debattierende Lektüre anderer Autoren, gegliedert in drei essayistische Abhandlungen. Vor allem Annie Ernaux und Pierre Bourdieu begleiten ihn. Theoretisch Bahnbrechendes ist dabei nicht zu erwarten. Wohl aber engagiertes Nachdenken über gesellschaftliche Verhältnisse, das seinen politischen Standpunkt nicht verbirgt. Wer von Klassen spricht, will sie abschaffen. Das hätten auch die Leser von "Rückkehr nach Reims" schon wissen können.

Didier Eribon: "Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege"
Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn,
Berlin, Suhrkamp 2017, 265 Seiten, 18 Euro

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