"Dicke Mädchen"

Von Hans-Ulrich Pönack · 14.11.2012
Sven ist ein lieber Dicker. Er lebt zusammen mit seiner an Demenz erkrankten Oma Edeltraud. Wenn er arbeiten geht, passt der füllige Familienvater Daniel auf die alte Dame auf. Als Oma Edeltraud plötzlich verschwindet, müssen die beiden Männer sie suchen - und entdecken dabei ihre Zuneigung füreinander.
Du hast fast nichts - sprich: ganz wenig an Mitteln - dafür eine Menge Ideen und viel gute Film-Lust, und schaffst daraus einen originellen Film, der urig ankommt. Was bisher nur aus den USA hin und wieder gemeldet wurde, wird nun auch hier wahr. Man denke etwa an einen - heute international bekannten und geschätzten – Kevin Smith, der 1994 im Alter von 24 Jahren in New Jersey für 27.000 Dollar das spätere Kultstück "Clerks – Die Ladenhüter" schuf, das dann mehr als das Hundertfache seiner Produktionskosten einspielte.

Im offiziellen Kino-Programm: Die Regie-Helden des herbstlichen deutschen Kinofilms von 2012 heißen Jan Ole Gerster - gerade im Kino mit seinem Debütstreich "Oh, Boy", und jetzt auch Axel Ranisch. Der Berliner, Jahrgang 1983, gründete mit einigen Getreuen die Produktionsfirma "Sehr gute Filme", um dann seinen Studien-Abschlussfilm an der HFF Potsdam-Babelsberg zu realisieren: mit einem sechsseitigen "losen Drehbuch", mit kleinem Freundesteam, bei vollem Selbstausbeutungsvergnügen und einem erklärten Barmitteleinsatz von 517,32 Euro sowie mit einer einfachen Mini-DV-Kamera in gerade einmal zehn Tagen in der Wohnung seiner 89-jährigen Oma Ruth Bickelhaupt.

Das Ergebnis ist überwältigend - so viel freies, tolles und schnelles Improvisationskino gab und gibt es bei uns selten. Von der Idee bis zur Fertigstellung dauerte es gerade einmal drei Monate. Die Idee: "Frei von Kompromissen eine kleine liebevolle Geschichte erzählen", wie Axel Ranisch selbst erklärte. Dies funktionierte, inzwischen auch international, denn der Regie-Diplomfilm "Dicke Mädchen" lief inzwischen vielbeachtet und vielgemocht, unter anderem im Vorjahr auf den Hofer Filmtagen und danach beim Kinofest in Lünen und wurde in diesem Jahr beim "Slamdance Film Festival" im amerikanischen Utah für seine "kühne Originalität" ausgezeichnet. Er hatte dann auch seinen Einsatz beim Internationalen Filmfestival in Warschau im "Wettbewerb des freien Geistes" und fand beim "Chicago Underground Film Festival" eine lobende Erwähnung in der Kategorie "Die nicht kategorisierbaren Besten".

Sven (Heiko Pinkowski) ist ein lieber Dicker. Er lebt zusammen mit seiner an Demenz erkrankten Oma Edeltraud (Ruth Bickelhaupt) in einer Plattenbauwohnung im Berliner Ostbezirk Lichtenberg. Er teilt sogar das Bett mit ihr. Sven arbeitet in einer Bank, also passt tagsüber der füllige Daniel (Peter Trabner), ein verheirateter Familienvater, auf Oma "voll" auf. Als bezahlter Freundschaftsdienst. Er wäscht sie, geht mit ihr zum Frisör oder spazieren oder einkaufen und sorgt für eine sauberes Heim. Als die alte Dame eines schönen Tages Daniel unbewusst auf dem Balkon aussperrt und abhaut, starten die beiden Kerle, um sie zu suchen.

Das, was danach folgt, ist eine verblüffende, individuelle, emotionale und authentische Entdeckung als pure, also humane Lebens-Inspiration. Freiheit, von der ich persönliche rede, schwingt in, mit, durch Räume und Bewegungen. Oder: Männer, die sich zu mögen entdecken. Beginnen.

Axel Ranisch oder: Frisch, fröhlich, unfromm, frei - ich bin, also mache ich. Soviel sympathisches, locker, leichtes, sinnliches deutsches No Budget- und viel prima unperfektes, eigenwillig-charmantes Seelchenkino um drei Typen und ihrem ganz eigenen, komischen Schwung zum Tun. Mal im Übermut, mit nicht immer klarem Ton, aber immer deutlich, mal lächelnd, in der Tiefe des Bauches grummelnd. Sympathisch, keck, mit Mut zur liebevollen menschlichen Peinlichkeit. Weil "die Drei" lakonisch launig und zärtlich mitmischen: Diese korpulenten kantigen Kerle und die unglaublich frische Oma Ruth Bickelhaupt, alias Edeltraut Richter, sowieso.

"Dicke Mädchen" wirkt wie ein fein-wackliges freies Home-Movie. Ich darf, ich mache, wie ich fühle. Weil (noch) niemand ´reinredet. Ich bin gespannt, was aus diesem fröhlichen Regie-Burschen Axel Ranisch noch wird. Seine Erstleichtigkeit jedenfalls ist erfreulich, sympathisch, voller köstlicher Lust. Kerl, möchte man ihm wünschen, lass dich so lange wie möglich nicht 'runterkriegen! Dein Anfang jedenfalls trifft deinen übermütigen Firmennamen voll und ganz. Bitte mehr von diesen "sehr guten (Bauch-)Filmen".

"Wozu großes Event-Kino, wenn es derart intensiv erzählte, bezaubernde Filme wie diese gibt", lautete die Jury-Begründung beim Lüner Filmfest für die schmunzelnde Auszeichnung "Bestes Drehbuch"

Deutschland 2011; Buch / Regie / Kamera: Axel Ranisch; Darsteller: Heiko Pinkowski, Ruth Bickelhaupt, Peter Trabner, Paul Pinkowski; 76 Minuten; FSK: ab 12 Jahren

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