Diagonal denken

Von Anna Bilger · 25.06.2012
Die mexikanische Künstlerin Mariana Castillo Deball, die zur Zeit in Kassel auf der documenta dabei ist, experimentiert in ihren Arbeiten mit ganz unterschiedlichen Materialien und Ausdrucksformen. In ihren Arbeiten stellt sie Bezüge her zu Mathematik und Philosophie, zu mexikanischer Volkskunst und Archäologie, zu Märchen und Mythen.
Bis vor kurzem war es noch eine Garage, jetzt schiebt Mariana Castillo Deball das Rolltor hoch und lässt Licht in ihr Atelier. Ein karger Raum im Souterrain, zweiter Hinterhof in Kreuzberg, das ganze Gebäude wird gerade renoviert.

Mariana Castillo Deball trägt einen klapprigen Holztisch nach draußen, Gips, Pigmente und eine Waage.

"Alles dauert ewig, erst musst du alle Farben anmischen..., alles ziemlich langweilig."

Das ist kokett! Die 37-Jährige scheint sich selbst überhaupt nicht zu langweilen. Sehr gewissenhaft, mit ruhigen Bewegungen wiegt sie Gips ab und siebt Pigmente hinein. Die schwarzen Locken hat sie hochgebunden, ihre Stirn in Falten gelegt.

Mariana Castillo Deball arbeitet an einer Serie von Plastiken, die auf geometrischen Modellen des deutschen Mathematikers Felix Klein beruhen. Sie formt geschwungene Objekte, deren unterschiedlich großen Flächen ineinander verdreht sind. Fast organisch sehen sie aus. Eines erinnert an eine aufgeklappte Muschel.

"Ich mochte Mathematik schon immer. Ich mag diese Systeme; zu sehen wie eine Folge von Gedanken sich aufbaut und wie sie zu einem mathematischen Modell werden."

Schon früh, noch zu Schulzeiten in Mexiko City, interessiert sich Mariana Castillo Deball für Mathematik und Philosophie. Die Mutter ist Opernsängerin, singt aber auch in einer Punkband. Der Vater filmt, schreibt, vor allem druckt er – seit Generationen besitzt die Familie eine Druckerei. So entscheidet sich Mariana Castillo Deball, Kunst zu studieren.

""Künstler ist ein sehr flexibler Beruf und Du kannst leicht betrügen (lacht) Du kannst alles Kunst nennen und es ist okay. Aber wenn Du Mathematiker oder Philosoph bist, kannst Du das nicht. Die Regeln sind viel strenger."

Ihr Interesse für Mathematik und Philosophie hat sie sich bewahrt – und integriert diese Interessen in ihre Kunst. Immer bezieht sie andere Disziplinen mit ein, durchforstet Bibliotheken, liest (philosophische) Aufsätze, trifft Wissenschaftler. Sie nennt es: diagonal denken.

"Ich denke, es gibt nicht den einen Weg die Realität zu definieren und zu bestimmen, wer wir sind. Wenn du etwa ein Schriftsteller bist, oder ein Wissenschaftler, ein Philosoph oder ein Buchhalter – dann bist du gezwungen, hoch spezialisiert zu sein. Und ich denke, Kunst kann ein Raum sein, in dem man zeigen kann, wie diese sehr spezifischen Blicke auf die Welt verknüpft sind."

Nach Europa kommt sie 2002, studiert erst in Maastricht. Dank eines Stipendiums landet sie schließlich in Berlin - und lebt nun hier und in Amsterdam. Es folgen verschiedene Einzelausstellungen in Mexiko, den Niederlanden und Deutschland, die Venedigbiennale im vergangenen Jahr – und jetzt also die Documenta.

"Manche Plastiken hier sind kleine Versionen der mathematischen Modelle von Felix Klein und das Werk, was ich in Kassel zeige, ist eben eine große Version davon."

Mariana Castillo Deball zeigt Fotos ihrer Arbeit für die documenta am Computer: Eine monumentale gewundene Wand, vier Meter hoch und sechs Meter breit. Angelehnt an die Modelle von Felix Klein. Gearbeitet aus Stuckmarmor. Eine Technik aus den Barockkirchen des 17 Jahrhunderts, die die Künstlerin selbst in einer Schweizer Kunstgießerei gelernt hat. In die Wand eingearbeitet hat sie Holzstücke, Stofffetzen, eine goldene Maske.

"Es ist, als wäre ein archäologisches Museum eingestürzt – und jemand hätte einen Querschnitt der verschiedenen Schichten gemacht und all die Überbleibsel sind nun in diese Wand eingearbeitet."

Was könnten die Objekte über die Welt erzählen, die sie umgibt? Seit mehreren Jahren beschäftigt sich Mariana Castillo Deball mit dieser Frage. Was erzählt ihr Kunstwerk über das Fridericianum, in dem es steht? Der heutige Ausstellungsort war früher unter anderem ein Archiv, wo Manuskripte zur Alchemie gelagert wurden, erzählt die 37-Jährige. Gerade das hat sie interessiert.

"Ein Alchemist damals hat die Welt ganz anders betrachtet als wir heute. Er hat etwa gesagt: ich versuche Gold zu finden, also transformiere ich die Natur. Aber die Natur verändert auch mich – es ist eine gegenseitige Veränderung. Das geschieht heute nicht mehr. Denn wir in unserer Berufswelt denken doch immer: WIR verändern die Welt und begreifen nicht, das die Welt auch UNS verändert. Ich wollte diese Idee mit meinem Kunstwerk zurückbringen."

Filmen, Zeichnen, Modellieren – Mariana Castillo Deball sucht sich die jeweils passende Ausdrucksform zu ihrem Projekt. Sie mag es immer wieder Dinge neu zu lernen. Nicht andere für sich arbeiten zu lassen. So dauern ihre Arbeiten auch mal fünf Jahre. Sie findet das in Ordnung. Es habe mit Respekt zu tun, sagt sie. Vor der Kunst und dem Thema. Und vor ihrem Publikum.

Gesichter einer Ausstellung
Künstler und Künstlerinnen auf der documenta