Deutschland als Modell für den Irak?

Moderation: Holger Hettinger · 18.07.2005
Vor 60 Jahren fand die Potsdamer Konferenz statt, in der über die Zukunft Deutschlands und Europas entschieden wurde. Einige Historiker behaupten, die Konferenz könne als Modell für den Umgang mit besiegten Diktaturen dienen. Der Zeithistoriker Konrad Jarausch sieht jedoch sehr große Unterschiede in den historischen Situationen.
Hettinger: Man kennt die Fotos aus den Geschichtsbüchern: Winston Churchill, Josef Stalin und Harry Truman strahlen in die Kamera, reichen sich die Hände überkreuz. Vor genau 60 Jahren haben sich die großen Drei, die Regierungschefs von Großbritannien, der Sowjetunion und den USA in Potsdam getroffen, um sich über die Grundzüge ihrer Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg abzustimmen. Ein weitreichendes Treffen und keinesfalls ein Fall fürs Archiv, denn, der Weg, den Deutschland nach der Konferenz genommen hat, kann beispielhaft sein für Länder wie Afghanistan oder den Irak.

Eine auf den ersten Blick gewagte These, die derzeit bei einer Tagung in Potsdam verhandelt wird. Einer der Referenten bei dieser Tagung ist der Zeithistoriker Konrad Jarausch, einer der profiliertesten Vertreter seiner Disziplin. Er ist Professor an der University of North Carolina in Chapel Hill und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Studien in Potsdam und er ist heute Morgen im Studio von Deutschlandradio Kultur. Schönen guten Morgen, Herr Professor Jarausch.

Jarausch: Guten Morgen.

Hettinger: Herr Jarausch, welche Ergebnisse waren denn das bei der Potsdamer Konferenz 1945, auf denen man heute so optimistisch aufbauen kann?

Jarausch: Es ist die Hoffnung der Demokratisierung eines besiegten Landes, das aus der Diktatur kommt und durch Eingriff von außen die Chance erhält, sich innen völlig umzustrukturieren. Es gibt zwei Fälle, die meistens als Erfolg gewertet werden, nämlich Deutschland und Japan und es gibt sehr viele andere Interventionen, die dann nicht in dem so genannten Nation Building zu dem gewünschten Ziel geführt haben.

Hettinger: Normalerweise hat man ja bei diesen Konferenzen, wenn es um die Neuordnung eines besiegten Landes geht, so das Klischee im Kopf: Da kommen die Großen in ein Land und verteilen das Fell des Bären. Was ist den anders gewesen bei der Potsdamer Konferenz 1945?

Jarausch: Ich denke, verteilt haben sie da auch. Der Bär ist ja auch erlegt worden. Das war ja der Sinn der Angelegenheit, des Treffens im Herzen des besiegten Landes. Sie hätten sich ja auch woanders treffen können, wo das Klima angenehmer wäre, obwohl es natürlich mitten im Sommer in Potsdam auch ganz nett sein kann mit den Seen und den etwas gemäßigteren Temperaturen. Aber der Sinn der Angelegenheit war, über die Neuordnung Europas zu reden. Und Deutschland ist der Kern dieses Europas.

Man wollte zum Beispiel Grenzen festlegen, also es ging um die Westverschiebung Polens und die Oder-Neiße-Linie und die Lausitzer Neiße, die westliche Neiße wurde dann also als Grenze festgelegt. Es ging um Bevölkerungstransfer, denn diese Gebiete im Osten hatten ja Leute, die da drin gewohnt haben. Man hat das unterschätzt, in den Diskussionen hat man das auch gar nicht ernst genommen, wieviel Millionen Deutsch sprechende Leute noch da waren. Man hat dadurch sozusagen eine Vertreibung autorisiert, in humanen und ordentlichen Bahnen sollte das abgehen. Aber das war dann natürlich nicht ganz so einfach, weil viel Verletzung und Hass und so weiter mitspielte, deswegen auch Rachegefühle.

Es ging um Reparationen, denn der Krieg in Osteuropa hatte ja vier Jahre lange gedauert seit dem Naziangriff auf die Sowjetunion und ungeheuere Verwüstungen angerichtet. In Westeuropa punktuelle auch, aber nicht ganz so flächendeckend. Weil nach der Alliiertenlandung 1944 sozusagen die Kampfhandlungen dort etwas kürzer waren.

Es ging um all diese Dinge und dann im Kern auch noch darum, was man mit dem besiegten Land selbst anfangen sollte, was dann noch übrig geblieben war. Da hat man sich dann erstmal auf ein Programm verständigt, auf ein Minimalprogramm der Entmilitarisierung, denn man hatte unheimliche Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Die Deutschen hatten im Alliiertenverständnis schon zweimal angefangen im 20. Jahrhundert und man sollte sicher sein, dass sie es zum dritten Mal nicht machen würden. Man wollte natürlich auch die Nazis loswerden, also eine Entnazifizierung und dahinterstehend auch den Nationalismus brechen in Deutschland.

Zum Dritten ging es um die Entflechtung der deutschen Wirtschaft, um sozusagen das Kriegspotential still zu legen. Man hat ein ganz konkretes Programm der strukturellen Veränderung Deutschlands und erst als Resultat dieser Veränderungen wollte man dann sozusagen auf den positiven Teil kommen, nämlich dann versuchen, die übrig gebliebenen Besiegten zu demokratisieren.

Hettinger: Also: Demokratisierung erst als zweiter Schritt eines Prozesses, der gewisse Voraussetzungen letztlich hat?

Jarausch: Ja, genau, denn, ich meine, man kann nicht sozusagen in einem besiegten Land einfach anfangen und sagen, so, jetzt nach der Methode: Hitler tot und Deutsche jetzt Demokraten. So etwas geht nicht, Demokratie ist nicht ein Lichtschalter, den man umlegen kann und dann geht plötzlich das Lämpchen an und dann strahlt es alles. Sondern es ist etwas viel Komplizierteres, es braucht Institutionen, die gegründet werden müssen, es braucht Träger, Leute sozusagen, die davon überzeugt sind, es braucht auch einen Habitus und eine Wertstruktur, die diese Institutionen mit Leben erfüllt. Ich meine, auch in Diktaturen gibt es demokratische Formen, zum Beispiel hat es in der DDR auch eine Volkskammer gegeben, aber sie hatte halt nichts zu sagen.

Hettinger: Das heißt, man muss auf das Häufchen der Aufrechten bauen und mit denen ist dann die Demokratie, wenn auch sehr langsam, sehr schleichend, ist das machbar. Wenn ich mir jetzt vorstelle, dieses Potsdamer Modell auf andere Regionen zu übertragen: Afghanistan zum Beispiel. Hat man da nicht ganz andere Voraussetzungen in einem Land, in dem Demokratie nie produziert wurde, das sein Bruttoinlandprodukt zu 75 Prozent mit dem Drogenhandel erwirtschaftet? Wie kann das funktionieren?

Jarausch: Ja, es funktioniert kaum. Sie haben ja in der Frage schon die Antwort gegeben. Nein, ich meine, es gibt einige Ähnlichkeiten. Wenn man vorher eine Art von Diktatur hat, die gestürzt wird, wenn man sozusagen eine kriegerische Auseinandersetzung hat und ein Land wird besiegt, dann hat man auch meistens eine Übernahme der Regierungsgewalt durch die neue Besatzung und man hat irgendein Rekonstruktionsprogramm. Auf dieser Ebene sind, glaube ich, die Ähnlichkeiten schon durchaus vorhanden. Aber die Unterschiede sind natürlich auch enorm, denn in Afghanistan und im Irak gibt es keine wirkliche Sicherheit, das heißt, eine öffentliche Ordnung.

Man hatte auch in Deutschland 45 viel Angst vor den so genannten Wehrwölfen, also von fanatisierten HJ-Anhängern, Jugendlichen oder so etwas, die sich dann auch als Attentäter oder so etwas betätigen würden. Obwohl, es ist kaum dazu gekommen, ein bisschen ist auch passiert, es sind ein paar Leute umgekommen, aber diese Sicherheitsfrage ist relativ schnell gelöst worden im deutschen Kontext.

Im deutschen Kontext gab es eine Ähnlichkeit der Kulturen. Das deutsche Ärgernis für die Amerikaner war ja nicht, dass die Deutschen so grundsätzlich verschieden waren, sondern dass die Deutschen eigentlich die Schwiegertöchter oder Schwiegersöhne waren. Das heißt, man hatte selber sehr viele von den Einwanderern im Land und die beiden Kulturen waren relativ ähnlich und das Ärgernis war, dass sie trotzdem sozusagen das Großverbrechen des 20. Jahrhunderts angezettelt hatten, weil sie es eigentlich besser wissen mussten.

Während mit Japan hat man einfach gesagt, na ja, die sind ja ganz anders. Da war eine von den Redewendungen: Die sind so wie zwölfjährige Kinder oder so was, die sind nicht so ganz erwachsen und wir müssen sie einfach bevormunden und dann kommen sie schon, dann werden sie schon irgendwie den Weg dorthin finden. Während die Deutschen, da nahm man schon an, dass die erwachsen waren und es eigentlich gewusst hätten.

Ein dritter Unterschied ist, es gab in Deutschland keinen religiösen Fundamentalismus dieser Art. Man stelle sich mal evangelische Bischöfe oder katholische Geistliche vor oder so etwas, die einen rabiaten Widerstand anzetteln würden gegen die Alliierten. Ich meine, die Kirchen haben sich für die Kriegsverbrecher eingesetzt und ihre Befreiung, sie haben protestiert und so weiter. Sie sind schon als Institutionen auch ein Sprachrohr der besiegten Bevölkerung gewesen gegenüber den Alliierten und ein Dorn in ihrer Seite, obwohl die Alliierten sie sozusagen auch als positive Macht zur Rekonstruktion gesehen haben. Aber es gab nichts Vergleichbares zu dem Fundamentalismus in Deutschland.

Hettinger: Das heißt, die Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war schon eine eigene, weil man auf einen gewissen Grundkonsens, auf eine gewisse Tradition bauen konnte? Nun ist das ja, wenn ich an den Irak denke, Sie haben den Fundamentalismus gerade angesprochen, doch eine ganz andere Situation. Diese Ansätze, wir helfen euch, wir geben euch Hilfestellung zur Mündigkeit, kann so etwas überhaupt funktionieren?

Jarausch: Vielleicht schon, aber ich wollte noch einen vierten Unterschied deutlich machen, das werden Sie mir verzeihen, das machen Akademiker so, das sind die Gruppenkämpfe. Ich meine, wenn man Kurden hat, wenn man Schiiten hat und wenn man Sunniten hat, wenn man sozusagen ganz unterschiedliche Bevölkerungsteile noch hat, die sich gegenseitig bekriegen, dann geht das auch nicht. Ich meine, die Preußen und die Bayern waren sich zwar auch spinnefeind und die Bayern haben ja immer noch irgendwelche Dinge, die sie im Kloster Andechs verkaufen über die "Saupreißen" und so weiter, aber es ging ja höchstens sozusagen auf die Ebene einer Wirtschaftsschlägerei und nicht auf die Ebene des Bürgerkrieges. Also, wenn man diese Spaltungen in der Gesellschaft nicht hat.

Um auf die andere Frage zurückzukommen: Wo ist die Revolution von 1848 im Irak? Wo ist die Revolution von 1918, die Weimarer Republik? Okay, sie haben ein bisschen unter den Engländern auch demokratische Institutionen gehabt, repräsentative in den 20er, 30er Jahren, aber eben unter der Kontrolle einer europäischen Vormacht und eines Imperialisten, sodass also diese Traditionen viel schwächer sind.

Ich meine, es gibt auch viele hoch gebildete Leute, zumindest im Irak, von denen man im Exil immer wieder welche kennen lernt, die eindrucksvoll sind, aber diese Leute haben nicht das Gewicht in der eigenen Kultur, um sich durchsetzen zu können. Ich denke, wenn sozusagen die Gruppe derjenigen, die demokratisieren will, im Lande nicht groß genug ist, dann werden sie als Kollaborateure der Besatzungsmacht verschrieen und dann sind sie dadurch desavouiert und das Projekt hat dann also ganz große Schwierigkeiten.

Hettinger: Ein steiniger Weg. Von Potsdam lernen - die Potsdamer Konferenz als Paradigma für einen Weg zum Frieden, zur Demokratie. Das wird derzeit verhandelt. Konrad Jarausch war das, Professor an der University of North Carolina in Chapel Hill und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Studien in Potsdam.