Deutsche Leitkultur

Von Rolf Schneider · 25.12.2005
Der Begriff ist dabei, der kollektiven Amnesie zu verfallen, wieder einmal. Ein Feuilletonist sprach von einem Springteufel, jenem dämonischen Spielzeug, das mittels einer Sprungfeder aus einem Kästchen eine schreckliche Figur entlässt. Nach einer Weile wird sie in dem Kästchen wieder eingeschlossen. Eine Wiederkehr des Vorgangs ist jeder Zeit möglich.
Es geht um die Leitkultur, um deren mögliche oder unmögliche Existenz. Wir wollen sie einer palliativen Behandlung unterziehen, wiewohl zu befürchten ist, dass dieselbe nicht verschlägt.

In seiner bundesdeutschen Verwendung ist der Begriff Leitkultur jüngeren Datums. Als Erfinder gilt, was kaum noch gewusst wird, der aus der Levante stammende und in Göttingen lehrende Politologe Bassam Tibi. Ein anderer Urheber war der heutige Innenminister Brandenburgs Jörg Schönbohm, der, als er eines vergangenen Tages durch das von Türken bewohnte Berlin-Kreuzberg ging, leitkulturelle Wünsche verspürte.

Zu einer flächendeckenden Lärmquelle geriet das Ding durch den nordrhein-westfälischen Politiker Friedrich Merz, als dieser CDU-Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag wurde und den Begriff hoch hielt. Wochenlang tobte ein öffentliches Für und Wider. Die CDU übernahm die deutsche Leitkultur in den Katalog ihrer programmatischen Forderungen.

Da aber geschah es, dass auf einer landesweit bestückten und landesweit beachteten Kundgebung vor dem Brandenburger Tor in Berlin der Vorsitzende des Zentralrates der deutschen Juden, Paul Spiegel, die rechtsradikalen Ausschreitungen, gegen die zu protestieren man gekommen war, als direkten Ausfluss der deutschen Leitkultur erkannte. CDU-Chefin Angela Merkel stand gleich neben ihm, hörte zu und versteinerte. Der Springteufel wurde in sein Kästchen getan.

Der letzte, der ihn daraus entließ, war der CDU-Politiker Norbert Lammert, ein gebildeter und kunstsinniger Mensch. Er verfuhr so zu seiner Inauguration als Bundestagspräsident. Wiederum war das Echo beträchtlich. Nun sind es überwiegend konservative Politiker, die der deutschen Leitkultur zuneigen, was den Begriff mit nationalkonservativen Gewichten behängt. Wo geleitet wird, muss befolgt werden. Leitung hat mit Subordination, mit Oben und Unten, mit Elite und Masse zu tun.

So eindeutig diese Tendenz ist, so diffus bleibt der Hauptbegriff. Kultur stammt aus dem Lateinischen und hat erst einmal mit Landwirtschaft zu tun, mit Agrokultur, colere, das Verbum, meint die Aufzucht von Feldfrüchten.

In einem umfassenderen Sinne bezeichnet Kultur, heute und bei uns, das Ensemble gewachsener Lebens- und Organisationsformen mitsamt den Wertevorstellungen einer Gesellschaft, unter besonderer Berücksichtigung des Kunstbetriebs. Im Englischen ist culture deckungsgleich mit civilisation. Im Deutschen wird Zivilisation als minderer Gegensatz zu Kultur begriffen, obschon sie das nicht ist.

Die Vertreter einer inzwischen obsolet gewordenen Weltanschauung namens Marxismus-Leninismus sprachen gerne von zwei Kulturen innerhalb der Klassengesellschaft. Gemeint war, dass die Bourgeoisie ein anderes Kunstverständnis und andere gesellschaftliche Praktiken habe als das Proletariat. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, da diese Betrachtungsweise aufkam, traf das jedenfalls zu.

Nun muss man kein Marxist-Leninist sein, um zu erkennen, dass es eine einzige Kultur selbst in ethnisch homogenen Gesellschaften nicht gibt. Auch die nichtmarxistischen Gelehrten Jakob Burckhardt, Alfred Weber und Arnold Toynbee sahen das so. Zwar ist die proletarische Kultur der Zwanziger Jahre heute verschwunden, wie das klassische Proletariat überhaupt, statt dessen haben wir es mit einer grenzenübergreifenden Kleinbürgerei zu tun.

Dafür gibt es andere Differenzierungen. Wir kennen Hochkultur und Trivialkultur. Es gibt Regionalkulturen und jene durch Pop, Hollywood und Rockmusik konstituierte Massenkultur, die sich nicht mehr national verorten lässt, da sie von Kalifornien über Polen bis Japan reicht.

Was von alldem sollte denn da Leitkultur sein oder werden? Die einschlägigen Programmatiker verschweigen es. Was sie meinen und sagen, ist, dass eine gleichberechtigte Existenz zweier oder mehrerer Parallelgesellschaften innerhalb unseres deutschen Vaterlands nicht angehe. Der Begriff wird offensiv gegen deren Verteidiger gerichtet.

Es waren die Bündnisgrünen, denen die Multikulturalität ein Anliegen war und ein Ausweis von gesellschaftlicher Toleranz. Seit die kopfstärkste Parallelgesellschaft im Land, die türkische, den Kalifen von Köln hervorbrachte, außerdem Ehrenmorde, Zwangsehen und die weitgehende Entmündigung der Frau, erkannten sie, dass hier Menschenrechtlichkeit und grüne Toleranz mit sich selber kollidieren. Mittlerweile wurde es um Multikulti deutlich stiller.

Für ausländische Immigranten hat zu gelten, dass sie die Verfassung mitsamt unserer Rechtsordnung anerkennen und außerdem, auch zu ihrem eigenen Vorteil, die hiesige Sprache beherrschen. Auf nicht viel anderes läuft das Gerede von deutscher Leitkultur hinaus. Da es so ist, sollte man, was man meint, auch sagen und den missverständlichen Begriff deutsche Leitkultur gründlich entsorgen.

Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.