Deutsch-französische Feind- und Freundschaft

02.02.2010
Der in Tunesien geborene und in Frankreich aufgewachsene Schriftsteller Hédi Kaddour hat mit "Waltenberg" einen epochalen Geschichts-, Spionage- und Liebesroman geschrieben. Im Brennpunkt steht die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert.
In Deutschland hatte der Roman bisher zu wenig Resonanz, aber das kommt ja vielleicht noch. Diese geringe Resonanz ist verwunderlich. Denn Hédi Kaddour spielt in seinem Roman immer wieder auf die deutsche Geistesgeschichte an. Seine Hauptfigur Hans Kappler holt Hans Castorp aus Thomas Manns Roman "Zauberberg" vom 1. Weltkrieg ab und führt ihn durch das Jahrhundert. Die zweite Hauptfigur des Romans, ein gewisser Michael Lilstein, entpuppt sich als eine Art Mephisto des 20. Jahrhunderts. Ein Wunderkind, das mit 15 Jahren schon an Spitzengesprächen der europäischen Elite teilnimmt, schließlich Spionagedienste übernimmt; der die Shoah überlebt, in der DDR den Geheimdienst aufbaut und zum Meisterspion avanciert. Mit Anspielungen auf die Biografie von Markus Wolf, der schließlich nach '89 zur CIA überläuft, im Dienst des Friedens. Frei nach Mephistos Motto: "Ich bin der Geist, der stets verneint, der stets das Böse will, und doch das Gute schafft."

Nur eine Frau schert aus dem deutsch-französischen Schema aus: Lena Hotspur. Der amerikanische Heißsporn verwirrt durch ihre Schönheit und mit ihrem Gesang nicht allein den deutschen Hans Kappler, sondern auch als spätere Agentin die Fäden der Geschichte.

Der Roman beginnt mit dem 1. Weltkrieg 1914-18. Französische Dragoner reiten mit erhobenen Säbeln gegen deutsches Sperrfeuer aus Spandau-Maschinengewehren an. Und – die Spitze des Anachronismus – sie stoßen mit ihren Lanzen in die neuen deutschen Flugzeuge, die der deutsche Hans entwickelt hat. Ein Dragoner schafft es, aus vollem Galopp den Schwanz einer Maschine zu kappen. Der Flieger trudelt und stürzt ab. Bei einem solchen Angriff wird Hans verwundet und gefangen genommen. Von nun an kümmert sich Max um ihn, Max Goffard, und es entwickelt sich eine innige deutsch-französische Freundschaft.

Vielleicht stellt dieser Anfang das Haupthindernis für deutsche Leser dar. Der 1. Weltkrieg spielt im deutschen Geschichtsbewusstsein nur eine Nebenrolle. Eine zweite Schwierigkeit liegt in der Komplexität des Romans. Hédi Kaddour verschachtelt die Ereignisse und die Erzählebenen. Er holt weit aus und greift weit voraus. Der Roman umfasst das gesamte 20. Jahrhundert, bis hin zum Afghanistan-Krieg. Wo gerade mal der Weltgeist weht, da lässt sich Kaddour mit einer Romanfigur nieder. Im Brennpunkt aber steht die deutsche Geschichte. Denn die Deutschen sind die Einzigen, die die beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib erfahren haben: erst den Nationalsozialismus und dann den Sowjetkommunismus. Und sie haben die Chance, diese Erfahrungen zu reflektieren.

Kaddour wechselt die Perspektiven wie seine Agenten die Seiten. Und dann ist es neben einem Spionage- auch ein Liebesroman. Die Liebe jedoch verwirrt alle Seiten.

Hédi Kaddour verwebt die historischen Phänomene des 20. Jahrhunderts zu einem Romangeflecht, montiert die unterschiedlichen Zeit- und Erzählebenen zu einem kunstvollen Nebeneinander. Durch die Bezüge auf die Dichter und Denker, auf Goethe, Thomas Mann und André Malraux, wird der Roman zu einer gelungenen Verneigung vor der deutsch-französischen Erbfeind- und schließlich -freundschaft.

Ein gewisser Symptomschmerz bleibt zurück. Seitdem sich das Wechselbild vom Erbfeind aufgelöst hat, schwindet das Interesse am Gegenüber. Hédi Kaddours epochaler Geschichts-, Spionage- und Liebesroman legt ein letztes und höchstes Zeugnis ab von einer ehemals furchtbaren und fruchtbaren Spannung. Brillant komponiert, präzise und meisterhaft übersetzt von Grete Osterwald, ein monumentales Werk über ein Jahrhundert intellektueller Verführungen und Verwirrungen.

Besprochen von Ruthard Stäblein

Hédi Kaddour: Waltenberg,
aus dem Französischen von Grete Osterwald,
Eichborn Verlag, 2009, 742 Seiten, 29,95 Euro