Der Weltkrieg zwischen Blau und Gelb

Von Hartmut Krug · 09.05.2013
Vieles in diesem fast 100 Jahre alten Stück kommt uns aktuell vor, mag die Machart noch so altbacken sein. Doch Kaisers Denkspiel-Thesentheater feuert wahre Textlawinen ab, und Regisseur Hansgünther Heyme lässt die Figuren in Recklinghausen steif stehen und bedeutungsvoll reden.
Die wichtigste Inszenierung von Georg Kaisers nach 1945 kaum noch gespielten zwei "Gas"- Stücken stammt von Erwin Piscator. Seine Bochumer Inszenierung von 1958 warnte vor der Atomkraft in Zeiten des Kalten Kriegs. Piscators späterer Assistent Hansgünther Heyme nahm jetzt bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen (mit einer Produktion des Badischen Staatstheaters Karlsruhe) Kaisers Stücke nicht etwa als Anspielungs- oder Menetekelmaterial, sondern behandelte sie als das, was sie sind: als Denkspiele mit dem Anspruch auf existentielle Gemeingültigkeit. Sie warnen vor den Gefahren technischer Entwicklungen und werben mit Skepsis vom sich emanzipierenden neuen Menschen. Es gibt bei Heyme keine Text- oder Bildhinzufügungen. Weder auf die Giftgasschlacht bei Ypern von 1915 wird hingewiesen (die Stücke aus den Jahren 1917 und 1920 reagieren auf den Ersten Weltkrieg) noch auf Tschernobyl oder Fukushima.

Dabei kommt uns vieles in diesem fast einhundert Jahre alten Stück aktuell vor, da mag ihre Machart noch so altbacken sein. Wenn der Milliardärssohn, dessen Gaswerk den gesamten Energiebedarf der Erde deckt, nach einer Explosion das zerstörte Werk nicht wieder aufbauen, sondern eine grüne Wohn- und Lebenswelt für die überlebenden Arbeiter bauen will, sehen diese ihr Heil weiterhin in der Gasproduktion. Immerhin hatten sie als Gewinnbeteiligte von dieser auch nicht schlecht gelebt.

Als sich auch der Ingenieur gegen den Plan des Milliardärssohnes stellt, dieser aber nicht nachgibt, enteignet der Staat ihn. Ein Krieg steht bevor, und Gas wird gebraucht. Im zweiten Stück findet eine Art Weltkrieg statt, zwischen Blaufiguren und Gelbfiguren, und die Arbeiter streiken, weil sie nun unter ihren Produktionsbedingungen leiden. Als sie ihren Streik dem Gegner mitteilen, beteiligt sich dieser nicht wie erhofft am Streik, sondern übernimmt die gegnerischen streikenden Werke. Denen als Waffe nur das von ihrem Ingenieur entwickelte Giftgas bleibt. So geht alles den schlimmsten Weg.

Kunstsprache im Alltagston
Das Gaswerk des Bühnenbildners Sebastian Hannak ist eine zweistöckige offene und leere Halle, deren oberer Teil aus einem schmalen Gestänge-Weg besteht. Wer dort sich von dort an die Arbeiter wendet, muss sich (aus Sicherheitsgründen) wie ein Bergsteiger mit Karabinerhaken an Handläufen festhaken. An diesen zugleich gesichert wie gehemmt, kann er sich nur ungelenk bewegen und ist von unfreiwilligen, recht komischen Verhedderungen mit den Sicherheitsleinen anderer Darsteller bedroht. Dieses Bühnenbild ist selten unpraktisch und unschön.

Heyme belässt die Stücke in ihrer Zeit, sowohl bei den historischen und den allegorisch abstrakten Kostümen wie bei ihrer Sprache. Doch merkwürdig: Beim Versuch der Darsteller, Kaisers expressionistisch hochgesteilte Kunstsprache im Alltagston zu sprechen, verliert diese ihre zugleich irritierende wie faszinierende Befremdlichkeit. Kaisers Denkspiel-Thesentheater feuert wahre Textlawinen auf den Zuschauer ab. Nichts wird nur einfach oder einmal gesagt, die Regel sind oftmalige Wiederholungen.

Heyme hat zwar gekürzt, aber viel zu wenig. Und da er die Figuren meist steif stehen und bedeutungsvoll reden lässt, wenn er sie nicht zu einem festen Arrangement fügt, wirkt die statuarische Aufführung ungemein betulich. Dass sie keine Popzitate versucht, kann man verschmerzen. Dass sie aber so spannungslos ist und weder Pep, Schwung oder wenigstens Lebendigkeit jenseits des Textaufsagens besitzt, das verleiht ihre eine tiefe, bleierne und einschläfernde Ernsthaftigkeit; da ändern auch nicht Kurzeinsätze von Klarinette oder Geige mit atmosphärischen Bedeutsamkeitstönen nichts.

Ideenträger und Verlautbarer, aber keine Menschen
Die Gas-Stücke sind zwar thematisch aktuell, aber es sind keine guten Stücke. Sie sind exakt gebaut, denn Kaiser war ein routinierter Dramatiker. In 50 Schaffensjahren schrieb er immerhin 74 Schauspiele. Worauf der Kritiker Alfred Kerr boshaft vom "Dramenkaninchen Kaiser" schrieb. Kaisers Figuren in "Gas" sind Ideenträger und Verlautbarer, keine Menschen. Wenn Andrej Kaminski sich als Milliardärssohn unentwegt seinen Zottelbart streicht, erscheint das in dieser Inszenierung schon als auffällige Geste. Dabei ist sie nur Ergebnis einer so verzweifelten wie misslungenen Idee des Darstellers, seiner Figur zu ihrem Zeigefingertext individuelle Ausprägung beizugeben.

Dieser Milliardärssohn wird in dieser Inszenierung von einem Visionär zu einem Propheten und schließlich zu einem Märtyrer. Was den Schauspieler dazu bringt, sich immer wieder bis auf das lange weiße Oberhemd zu entkleiden. Das ist aber auch schon der einzige, wenn auch unglückliche Regieeinfall einer Inszenierung, die weitgehend ohne Mätzchen auskommt und fest in einer textbetonten Regie-Ästhetik der 60er-Jahre verharrt. Damit aber gelingt es Hansgünther Heyme nicht, Kaisers alten Texten neues Leben ein zu hauchen. Schade, ein ambitionierter Versuch ist gescheitert.


Informationen der Ruhrfestspiele zu "Gas 1 & 2"