"Der Versuch, sich sichtbar zu machen"

Hartmut Häußermann im Gespräch mit Dieter Kassel · 03.08.2010
Das Aufpolieren des eigenen Images in der Konkurrenz um Investoren und Einwohner nennt der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann einen der Gründe, warum immer mehr Städte durch Großveranstaltungen auf sich aufmerksam machen wollen.
Dieter Kassel: Niemand kann jetzt schon mit annähernder Bestimmtheit sagen, wer wirklich verantwortlich ist für die 21 Toten von Duisburg und für die vielen Verletzten. Das wird auch noch lange dauern, bis man das hoffentlich mal geklärt hat. Aber eins geht wohl nicht zu weit, eins kann man wohl feststellen, nämlich was überhaupt dafür gesorgt hat, dass es Gelegenheit gab, diese Fehler zu machen, die offenbar gemacht wurden. Das war nämlich der Wunsch vieler großer, aber zunehmend auch vieler mittelgroßer Städte, eine Massenveranstaltung auszurichten, ein Megaevent. Unter dem Stichwort 'Festivalisierung der Stadtpolitik' hat der Soziologe Hartmut Häußermann dieses Phänomen bereits 1993 beschrieben. Häußermann ist Stadtsoziologe und Mitbegründer des Georg-Simmel-Zentrums für Metropolenforschung der Berliner Humboldt-Universität und ich darf ihn jetzt hier bei uns im Studio begrüßen. Schönen guten Tag, Herr Häußermann!

Hartmut Häußermann: Guten Tag!

Kassel: Wie weit ist es denn inzwischen? Gibt es überhaupt noch Städte, die es sich erlauben können, bei diesem Spiel um das größte Event gar nicht mitzumachen?

Häußermann: Also, das hängt von der Größe des Events ab. Um Olympische Spiele, da konkurrieren auch die großen Städte New York, London oder Paris. Und dann gibt es halt die Mittelklasse, wo ich die Loveparade oder ähnliche Massenpopkultur-Veranstaltungen zurechnen würde, das möchten gerne alle machen, da gibt es ja auch Dörfer, die so was veranstalten. Es ist halt der Versuch, sich sichtbar zu machen.

Kassel: Sie haben ja selber schon damals vor 17 Jahren von der Festivalisierung der Stadtpolitik gesprochen. Das heißt, die Frage, ob jemand so ein Event überhaupt erstmal kriegt und es dann stemmen kann, die ist auch wichtig für das politische Schicksal der Leute in den Rathäusern?

Häußermann: Ja, die Möglichkeit in einer Stadt, die von vielen ökonomischen Problemen geplagt ist, wie das ja in Duisburg der Fall ist – die Bevölkerungszahl nimmt ab, die Zahl der Arbeitsplätze hat abgenommen, ganze große Betriebe sind geschlossen worden –, dann zu fragen, was kann man denn machen, was kann man dagegen tun, um nicht nur immer Verlust, Resignation und Pessimismus nähren zu müssen oder ertragen zu müssen, da sind natürlich solche Veranstaltungen, wo gejubelt wird, wo Leute in guter Stimmung sind, immer ein ganz gutes Mittel für die Stadtpolitiker, zu sagen, wir sind noch da, es geht nicht alles abwärts.

Kassel: Das heißt, das Ganze ist schon auch ein Ablenkungsmanöver, denn eigentlich könnte man doch erwarten, dass so ein Stadtvater durch gute Arbeitslosenzahlen, Sicherheit und sonst was auf sich aufmerksam macht.

Häußermann: Er kann ja keine guten Arbeitslosenzahlen aufweisen, das ist ja das Problem. Es ist nicht nur ein Ablenkungsmanöver, das waren große Veranstaltungen immer, Brot und Spiele, das kennen wir seit dem Römischen Reich. Aber der strategische Zweck bei den Städten, solche großen Events zu veranstalten, ist der, eben überregional bekannt und sichtbar zu werden und damit – also das ist die offizielle Begründung immer – Investoren aufmerksam zu machen. Also, dass man auch in Hongkong und in Singapur weiß, dass es Duisburg gibt und dass es dort Flächen gibt, viele, viele, viele leere Flächen, in denen man investieren könnte. Das ist die Hoffnung. Ich finde, es ist eine mehr oder weniger illusionäre Hoffnung, aber das wird seit 20 Jahren intensiv von allen Städten so gemacht und geglaubt.

Kassel: Auch wenn – Sie haben jetzt so ein Beispiel genannt mit dem Ausland –, auch wenn vielleicht nicht gleich Tokyo, Singapur und Rio de Janeiro aufmerksam werden, aber diese Rechnung, dass man – solche Veranstaltungen kosten ja in der Regel auch Geld, gerade Duisburg hatte ja Probleme, weil es eigentlich schon eine Haushaltssperre gab –, dass man eine gewisse Summe, die oft nicht niedrig ist, hineinsteckt, aber eigentlich viel mehr damit verdient. Geht diese Rechnung in aller Regel auf?

Häußermann: Na ja, man verdient natürlich schon was, aber es verdient nicht die Stadt direkt, sondern die Unternehmen, die Hotels, die Gastronomie und so weiter, die verdienen was dabei. Die Stadt investiert erst mal, im Fall von Duisburg glaube ich 800.000, die sie aber vom Land bekommen haben, weil die Stadt ja überhaupt kein Geld hat. Das sind indirekte Effekte. Da gibt es immer Unternehmensberater, die das ausrechnen, dass sich das ganz toll lohnt, wenn man so was veranstaltet. Für die Stadt selber ist es immer ein Verlustgeschäft erst mal.

Kassel: Welche Rolle spielt denn bei diesem Kampf um das nächste große Event die Konkurrenz zwischen Städten? Also gar nicht zwischen Berlin und der Provinz, sondern vielleicht zwischen Nachbarstädten?

Häußermann: Ja, gerade im Ruhrgebiet liegen ja viele Städte mit ähnlichen Problemen nebeneinander, und das hat ja schon seit den 20er-Jahren verhindert, dass es dort eine einheitliche Stadtregierung gibt, was man damals schon für notwendig gehalten hätte. Und die Städte konkurrieren, weil jeder ähnliche Probleme hat, und jeder versucht natürlich, da rauszukommen. In Zeiten, wo die Bevölkerungszahlen so zurückgehen insgesamt, ist natürlich immer der Versuch, seine Bevölkerungszahl stabil zu halten oder sie vielleicht sogar zu steigern, nur auf Kosten des Nachbarn oder anderer Städte möglich. Insofern ist die Städtekonkurrenz institutionalisiert. Also, die Möglichkeit wäre ja nur zu sagen, wir steigen aus der Städtekonkurrenz aus, wir besinnen uns auf unsere eigenen Fähigkeiten, auf unsere eigenen Potenziale und nehmen das als gegeben hin, man kann es eh nicht verändern, dass die große Zeit der Industrialisierung vorbei ist, dass die Industriestadt Duisburg keine Industriestadt mehr ist, und macht dann einfach eine gediegenere, bescheidenere Politik. Das wäre eine Alternative, das ist aber sehr schwer immer natürlich für Bürgermeister oder Stadträte, Politiker, Parteien, das in der Stadt zu vermitteln, weil alle Leute hoffen irgendwie, es muss aufwärts gehen, es muss Wachstum geben, der muss Arbeitsplätze schaffen. Diejenigen, die die Arbeitsplätze verloren haben, hoffen natürlich, dass ihre Besitzstände gewahrt werden. Das alles ist nachvollziehbar und führt dann zu dieser teilweise absurden Konkurrenz um solche Events, die dann die ganze Stadt für eine gewisse Zeit mobilisieren und, wenn es so schiefgeht wie jetzt in Duisburg, natürlich ein großes Problem für die Stadt darstellen. Weil der Schuss geht dann einfach nach hinten los. Von Duisburg wird man in Zukunft nicht als dem idealen Investitionsort sprechen.

Kassel: Wie einfach – na ja, einfach ist es ganz sicherlich nicht –, aber wie möglich wird es denn überhaupt sein, so einen Negativruf auch wieder loszuwerden? Über Duisburg wird man sicherlich jetzt, auch wenn man das auf der Landkarte mit dem Finger nicht so schnell finden würde, zumindest in Deutschland, in einigen Nachbarländern eine Weile lang denken, das ist die Stadt, wo die allerletzte Loveparade stattfand, wo es viele Tote gab. Es gibt ja andere Beispielstädte, die manchmal mit, manchmal völlig ohne Fremdverschulden so ein Image bekommen haben: Hoyerswerda, Rammstein, Solingen und noch ein paar andere. Wie kann man so ein Image wieder loswerden?

Häußermann: Also, das würde ich jetzt nicht überschätzen. Wenn Sie jetzt das Beispiel Rammstein oder Hoyerswerda nennen, da haben Sie recht, weil die haben ja praktisch nur eine Qualität gehabt – entweder ein Stahlwerk oder Militärstandort, da gab es nichts anderes, was man vorher kannte oder hinterher irgendwie zur Kenntnis genommen hat. Aber Duisburg ist eine alte Stadt und hat eine große Industriegeschichte und ist inzwischen auch vielfältig entwickelt in Dienstleistungsbereichen. Also, dass ein solches Event nun die Stadt in die absolute Katastrophe stürzt, das halte ich für unmöglich. Das wird man in 15 Jahren vergessen haben. Vielleicht ist, im Rahmen der Popkultur wird der Name Duisburg immer mit diesem Event verhaftet sein, aber in der allgemeinen Politik, glaube ich nicht.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit dem Stadtsoziologen Hartmut Häußermann über den Drang von immer mehr Städten, auch nicht nur den ganz großen, durch sehr, sehr große Events auf sich aufmerksam zu machen. Wie viel hat das auch zu tun, Herr Häußermann, mit diesem Wunsch von allen möglichen Orten, unbedingt eine echte Metropole zu sein? Da ist ja das Ruhrgebiet ein gutes Beispiel: einerseits Konkurrenz – Bochum ist ganz anders als Duisburg, Duisburg anders als Dortmund –, andererseits haben wir gerade im Zusammenhang mit RUHR.2010 immer wieder gehört, das ist diese Metropolenregion. In Zahlen ausgedrückt kann man das behaupten, da wohnen mehr Menschen als in Berlin, es ist eine größere Fläche. Aber ist das Ruhrgebiet eine Metropole?

Häußermann: Ja, wissen Sie, das beste Anzeichen dafür, dass etwas keine Metropole ist, wenn es sich selber ständig als Metropole bezeichnen muss. Weil dann ist ja offensichtlich, dass niemand von außen das so wahrnimmt. Das ist der Versuch der Imagepolitik. Dortmund ist eine alte Hansestadt, Duisburg hat auch eine alte Geschichte, aber zwischendrin breitet sich so ein Brei aus, der sich jetzt künstlich hochredet zu einer Metropole. Also, ich glaube nicht, dass es gelingen wird, das zum zentralen Thema zu machen, zu sagen, wir stehen neben London, neben Paris und so was. Weil das, was eine Metropole ausmacht, nämlich eine hohe Dichte, hohe Beziehungsdichte, hohe Begegnungsdichte, hohe Bevölkerungsdichte und Heterogenität von Kultur, von ethnischen Gruppierungen, von Berufen, von künstlerischen Aktivitäten, das ist eben im Ruhrgebiet nicht da. Das muss immer inszeniert werden und deshalb sind im Ruhrgebiet immer diese großen Events so gefragt, weil da sammelt man seine Kräfte, mal so jetzt am 31. Juli oder wann immer das war sitzen da 150 Kilometer lang die Leute auf der Autobahn das wird in der "tagesschau" gezeigt, dann sind wir da. Aber das alltägliche Leben ist ja doch sehr viel bescheidener.

Kassel: Wie schnell vergessen Leute? Sie haben erwähnt, es könnte sein, dass die Popkultur nun doch langfristig berührt bleibt von der Sache – vielleicht. Vor zehn Jahren aber zum Beispiel gab es in Dänemark in Roskilde auf dem Rockfestival, ich glaub, neun Tote, inzwischen ist die Feierstimmung da wieder ausgelassen wie eh und je. Es wird keine Loveparade mehr geben, das ist beschlossen, aber es wird andere Technoveranstaltungen geben und es wird andere Großveranstaltungen geben. Also Nachhaltigkeit vermutlich nicht trotz 21 Toten?

Häußermann: Sie können ja eine Veranstaltung, wo vor allem Ausgelassenheit, Verrücktheit, sich mal richtig ausleben, sich auch volllaufen lassen und so was, wo das im Zentrum steht, können Sie ja nicht mit Nachdenklichkeit mischen und sagen, ihr dürft zwar ausgelassen sein, aber ihr müsst immer noch daran denken, Vorsicht, dein Nachbar und sonst was. Der Kick liegt ja darin, dass man in diese Dynamik reinkommt, dass man den Reiz spürt, das Momentum erlebt. Und das kann man nur, wenn man nicht zu viele Bedenken im Kopf hat.

Kassel: Das ist ja ein Trend, diese Sache mit den Events. Kein brandneuer, ich hab es ja erwähnt, Sie haben da schon vor einer ganzen Weile drüber geschrieben, aber Trends haben es ja so an sich, dass sie nicht ewig halten. Halten Sie es für vorstellbar, dass sich das Ganze mal umdreht, dass zumindest eine mittelgroße Stadt damit wirbt, bei uns gibt es garantiert kein Festival, keine Großveranstaltung, keine Theatertage, bei uns haben Sie garantiert immer Ihre Ruhe?

Häußermann: Es gibt ja solche Städte. Es gibt von Italien ausgehend, aber inzwischen sind auch einige deutsche Städte dabei, eine sogenannte Slow-City-Bewegung, die sagen, wir machen nicht mit bei dieser Konkurrenz und wir strecken uns nicht den dünnen Hals in die Globalisierungsluft, sondern wir konzentrieren uns auf unsere Region, bei uns gibt es Ruhe und Sie können hier Geschichte erleben und auch Natur. Und das, was wir in der Region produzieren, das ist unser Inhalt, das bieten wir an. Also – möglich ist das!

Kassel: Sagt Hartmut Häußermann, Stadtsoziologe und Mitbegründer des Georg-Simmel-Zentrums für Metropolenforschung an der Berliner Humboldt-Universität. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
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