Der verhasste Bourgeois

Von Ulrike Ackermann · 12.08.2007
Seltsam, je weiter das Jahr 1989 und der gloriose Sieg der Demokratie und Marktwirtschaft über den Kommunismus in die Ferne rückt, desto beliebter und hoffähiger wird der Sozialismus. Alarmierend sind Umfrageergebnisse, nach denen die Zahl jener, die die Idee des Sozialismus gut finden, auch wenn sie schlecht ausgeführt wurde, seit Jahren kontinuierlich steigt.
45 Prozent der Westdeutschen sind heute dieser Meinung und immer noch 57 Prozent der Ostdeutschen. Wobei in den neuen Bundesländern die Attraktivität des Sozialismus in den letzten Jahren rückläufig war. Schon kurz nach der Wiedervereinigung setzte bei den Deutschen eine Entwicklung ein, in der kontinuierlich die Wertschätzung der errungenen Freiheit, im Kern die individuelle Freiheit, zugunsten sozialer Sicherheit und dem Diktum sozialer Gerechtigkeit abnahm. Der erfolgreiche populistische Feldzug von Oskar Lafontaine und seinen ehemaligen SED-Genossen für einen nationalen Sozialismus ist vor diesem Hintergrund nur die Spitze des Eisbergs.

"Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt." So hellsichtig hatten Karl Marx und Friedrich Engels 1848 den Entwicklungsprozess des Kapitalismus und seine Globalisierung im Kommunistischen Manifest beschrieben. Sie sollten Recht behalten. Fast zwei Drittel aller 192 Staaten haben heute gewählte Regierungen, in über 80 Ländern existieren sogar echte liberale Demokratien.

Mit dem prognostizierten weltweiten Untergang des von ihnen so gehassten dekadenten Kapitalismus und seiner Bourgeoisie hatten sie allerdings Unrecht. Aber nicht ihre Weitsicht auf die produktiven Kräfte des Weltmarkts blieb in den Köpfen hängen, sondern der Hass auf den Bourgeois. Auch wenn die Realität die Propheten der klassenlosen Gesellschaft und ihre staatskommunistischen Vollstrecker Lügen gestraft hat, hält sich der Hass auf Kapitalismus und Globalisierung gerade auch im ökonomisch gut abgepolsterten Europa. Nicht nur das bunt gemischte Volk der Globalisierungskritiker, von Attac, Pax Christi, Linkspartei, Verdi bis zu NPD und schwarzem Block, auch die abertausenden Teilnehmer auf dem Evangelischen Kirchentag teilen das antikapitalistische Ressentiment.

Obwohl das kommunistische Gesellschaftsexperiment gescheitert ist und Millionen Todesopfer beschert hat, überwintern zählebig seine ideologischen Versatzstücke bis hinein in die bürgerliche Mitte der europäischen Gesellschaften. Die radikale Kapitalismuskritik mutierte in den letzten Jahrzehnten zur diffusen Verachtung der Globalisierung und erreichte damit weit größere Kreise. Der Hass auf den Bürger - aus Neid - und der bürgerliche Selbsthass - aus schlechtem Gewissen - beseelen immer noch den Diskurs in der öffentlichen Meinung, der politischen Klasse oder bei den Intellektuellen.

1989 kämpften die Bürger in Ostmitteleuropa aber nicht nur für Bürgerrechte, sondern auch für Eigentumsrechte. Sie wollten politische und wirtschaftliche Freiheit, Demokratie und Kapitalismus. Damit hoben sie die von Marx propagierte Entgegensetzung von Bourgeois und Citoyen auf - eine ideologische Denkfigur, die sich paradoxerweise im marktwirtschaftlichen und demokratischen Westen immer noch großer Beliebtheit erfreuen kann. Obwohl die Freiheit des Individuums in der Einheit von Bourgeois und Citoyen gerade die Grundlage für den Erfolg von Demokratie und Kapitalismus war: weil der Bourgeois mit seiner wirtschaftlichen Tätigkeit erst die Voraussetzung für die politische Selbstbestimmung des Citoyens schafft.

Die Figur des selbstverantwortlichen Individuums, das sein Leben, seine Freiheit und sein Streben nach Glück eigenwillig in die Hand nimmt, stößt bis heute auf Misstrauen. In der immer noch geläufigen Individualismuskritik wird das egoistische, gewinn- und zweckorientierte Individuum als Produkt des dekadenten, kalten Kapitalismus angeprangert. Die Rettung soll der Staat besorgen, der zunehmend für alle Lebensrisiken haftbar gemacht wird, und wärmende Gemeinschaften, die egalitäre Sehnsüchte bedienen.

Doch die individuelle Freiheit als kostbarer Schatz und Errungenschaft der Moderne ist in der Vergangenheit schon allzu häufig einem Kollektiv und der Gleichschaltung geopfert worden. Also höchste Zeit, Selbstbestimmung und Autonomie des Individuums auf die Agenda zu setzen. Denn erst Bürger, die fähig und willens sind, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, sind Bourgeois und Citoyen zugleich. Das wäre nicht die schlechteste Grundlage für die Entfaltung der Freiheit.

Dr. Ulrike Ackermann, geb. 1957, Studium der Politik, Soziologie und Neueren Deutschen Philologie in Frankfurt am Main. Ab 1977 Zusammenarbeit mit der Charta 77, dem polnischen KOR, der Solidarnosc und anderen Bürgerrechtsbewegungen in Ostmitteleuropa. Fünf Jahre lang verantwortliche Redakteurin der "Frankfurter Hefte / Neue Gesellschaft". 1995 bis 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seit 1998 freie Autorin. Gründerin und Leiterin des Europäischen Forums an der Berlin-Brandenburgischen Akademie für Wissenschaften. Buchveröffentlichungen unter anderem: "Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute" und zuletzt "Versuchung Europa" (Hg.), Frankfurt am Main 2003, Humanities Online.
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