"Der Verdingbub"

Von Wolfgang Martin Hamdorf · 22.10.2012
Am 25. Oktober startet der Schweizer Film "Der Verdingbub". Regisseur Markus Imboden erzählt in wunderschöner Alpenlandschaft die grausame Geschichte von Waisenkindern, die in den 1950er- und 60er-Jahren auf kleinen Bergbauernhöfen zur Arbeit gezwungen und misshandelt werden.
"Grüß Gott Herr Pfarrer! Grüß Gott, Frau Börsiger!"

Ein einsamer Bergbauernhof in der Schweiz. Der Dorfpriester bringt ein neues Pflegekind. Max soll hier bei der Arbeit helfen und in einer neuen Familie aufwachsen. Alles scheint perfekt, aber die Idylle trügt: Auf den abgelegen Höfen ist das Leben hart. Die Kinder werden misshandelt und ausgebeutet und die Bauernfamilie braucht das Pflegegeld.

"Das ist der erste Monat, ihr bekommt das Kostgeld künftig auf den letzten. Gebt Acht auf den Buben. Die aus dem Heim können zwar arbeiten, sind aber oft bockig."

"Mit Gottes Hilfe wird's schon gehen, Hauptsache, er ist kein Bettnässer wie der letzte. Ihr achtet aber schon darauf, dass er länger durchhält."

"Der Verdingbub" führt zurück in die 1950er Jahre. Er erzählt von den Kindern Max und Berteli. Er erzählt von Ausbeutung, Gewalt und von sexueller Nötigung. Hunderttausende Kinder seien davon bis 1972 betroffen gewesen, sagt Regisseur Markus Imboden:

"Da gab's natürlich auch Bestrebungen auch sozialer Art, das abzuschaffen, aber es war noch 1955 erlaubt, diese Kinder auf dem Dorfplatz auszustellen, dann sind die Bauern vorbeigekommen, haben sie in den Mund geschaut, wie man das bei den Kühen kennt und die haben sich dann die besten Arbeitskräfte geholt."

Der Film handelt von Kindern, die zum Opfer eines engen moralischen Weltbildes werden, zeigt die Komplizenschaft kirchlicher und staatlicher Stellen. Denn teilweise reißt die Kantonspolizei die Kinder aus ihren Familien, weil etwa allein erziehende Mütter nicht in die Schweizer Gesellschaft der 1950er-Jahre passen.

"Nun seien sie Doch vernünftig, Frau Börse" - "Mama, Mama!" - "Die Mädchen brauchen eine Familie und ein Dach über dem Kopf. Wenn sie wieder einen Mann haben, dann wird alles neu bewertet."

Nur die junge Dorfschullehrerin interessiert sich für die Pflegekinder.

"Max, ich hab dir schon ein paar Mal gesagt, dass du zu Hause schlafen sollst und nicht hier! Was ist denn los? Wann stehst du denn auf am Morgen?" - "Um halb vier? Jeden Morgen?" - "Nein am Sonntag erst um halb fünf." - "Also auf jeden Fall gehst du jetzt heim und schläfst. So kann ich nichts mit dir anfangen. Was ist denn?" - "Ich möchte lieber hier bleiben."

Aber der jungen Frau wird ihr Mitgefühl für die ausgebeuteten Pflegekinder schnell zum Verhängnis. In der Schweiz war die Geschichte der "Verdingkinder", der Zwangsarbeit von Pflegekindern in der Landwirtschaft, über lange Jahre ein Tabu. In den letzten Jahren hat sich das geändert. Zahlreiche Sachbücher und Dokumentarfilme haben das Thema aufgearbeitet und auch Markus Imbodens Spielfilm war extrem erfolgreich an den Kinokassen. Dabei sind in seinem Film die Täter auch selbst Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Ärmsten beuten die noch Ärmeren aus.

"Der Bauer zum Beispiel: Wenn wir jetzt eine Folge zwei drehen würden, dann würde er sich sehr wahrscheinlich aufhängen am Anfang des Films. Aber man merkt doch diese unglaubliche Sehnsucht, auch die Bäuerin, wenn sie zum ersten Mal versucht, Berteli in den Arm zu nehmen, dann weiß man doch, dass die Frau eigentlich gerne ein Mädchen gehabt hätte, weil sie wollte auch einmal mit ihresgleichen sprechen. Es ist ein Film, wie eine griechische Tragödie."

Anrührend ist auch die Annäherung der beiden Pflegekinder, die sich am Anfang hassen und dann immer näher kommen:

"Ich will deine Bäuerin sein." - "Wie viele Rösser willst du?" - "Eins." - "Wir hatten zehn." - "Also, dann nehm ich zwei." - "Und ich spiele den ganzen Tag auf meiner Handorgel und dann hören sie mich hier im Radio, und wir wären Bauer und Bäuerin und hätten zusammen Kinder."

Aber die Träume erfüllen sich nicht und auf dem Bergbauernhof eskaliert die Situation. In einer streng moralischen Gesellschaft wird die Einöde zum rechtsfreien Raum:

"Natürlich ist diese Vereinzelung von Höfen wesentlich für die Geschichte, weil gerade, dass es keine Kontrolle gibt oder, dass man eine Stunde läuft ins Dorf, oder eine dreiviertel Stunde in die Schule. Das ist ein rechtsfreier Ort, der Missbrauch wird nicht bemerkt: Oh, das ist ja komisch, da wollen wir nichts mit zu tun haben, von daher, das sind Geschichtsbedingungen, das ist aber auch die dramaturgische Maschinerie basiert darauf. Es ist natürlich, wenn sie wollen, schon ein Heimatfilm, er erzählt über meine Heimat und ja, ist ein Heimatfilm, ein moderner Heimatfilm."

Trotz aller Tragik und Trostlosigkeit ist der Film am Ende aber auch eine Geschichte des Überlebens und des Neubeginns.

"Ja, man denkt, dass es Sinn macht, zu leben, dass man sich auch wehren kann. Und es ist auch eine Geschichte über Musik, über die Bedingungen der Musik, über den Schmerz, der hinter der Musik stehen kann und auch bleibt, als etwas, das man mitträgt im Leben."

"Der Verdingbub" ist ein soziales Drama in einer beeindruckenden einsamen Schweizer Berglandschaft. Er zeigt Gefühle, ohne falsche Sentimentalität und ist ein Heimatfilm der Heimatlosen.

Filmhomepage "Der Verdingbub"