Der unhöfliche Blick

Von Stefan Keim · 17.08.2012
Man glotzt andere Leute nicht an, so sind wir erzogen. Doch bei der "Live Art Group Show" im Museum Folkwang Essen ist es genau andersherum: Man soll die Leute, die dort in zwölf Räumen auf Publikum warten, anstarren, denn sie sind lebende Kunstwerke. "12 Rooms" ist eine Mischform aus Kunst und Theater, die schon in Manchester zu sehen war und nach der Ruhrtriennale nach Sydney, Moskau und weitere Orte wandern wird. Immer wird sie um einen Raum wachsen, die Performer kommen stets aus der Region. Hier natürlich aus dem Ruhrgebiet.
Das Mädchen ist vielleicht zwölf Jahre alt. Es bewegt sich wie ein Roboter, ungelenk und künstlich. Der Blick ist kalt. Ann Lee, so heißt das Kind, spricht die Zuschauer im drückend heißen, weißen Raum direkt an. Sie war eine Figur aus einem Mangacomic.

"Then I was bought by two contemporary artists and transformed into an animation character for art videos."

Zwei zeitgenössische Künstler haben sie gekauft und in einen animierten Charakter für ihre Videos verwandelt. Nun hat Ann Lee menschliche Gestalt bekommen. Die Welt draußen kennt sie noch nicht. Die Besucher sind ihr einziger Kontakt zu einem neuen Leben, dessen Regeln sie erlernen will. Sie probiert Höflichkeitsfloskeln aus, stellt Fragen nach dem Sinn. Keiner weiß überzeugende Antworten. Macht nichts, sagt Ann Lee mit gleichmütiger Stimme, sie hat sich dennoch gefreut, uns getroffen zu haben.

Die Installation von Tino Sehgal löst widersprüchliche Emotionen aus. Das kalte Kind ist unheimlich, man will ihm dennoch helfen. Aber durch ihre einfachen Fragen zeigt Ann Lee einem die eigene Orientierungslosigkeit.

Was in den zwölf Räumen passiert, hängt vom Besucher ab. Wenn er auf Distanz bleibt, sieht er rätselhafte Bilder. Eine nackte Frau zum Beispiel, die mit einem Handspiegel intensiv ihren Körper betrachtet. Oder einen jungen Mann, der in eine Ecke starrt. "Veteranen aus Kriegen in Jugoslawien, Bosnien, Kosovo, Serbien und Somalia mit Blick zur Wand" heißt das Werk von Santiago Sierra.

"Haben Sie irgendwelche Gedanken oder Texte, die Ihnen jetzt durch den Kopf gehen? Wir haben gerade angefangen. Jetzt ist erst mal die Anspannung da, wie das zehn Tage geht. Wir sind zu zweit."

In allen Räumen wechseln sich die Performer ab. Das ist auch notwendig, denn einige gehen an körperliche Grenzen. Wie sich ein in extremer Rückenlage über dem Boden schwebender Chinese in der Luft hält, grenzt an ein Wunder. Und Marina Abramovic schafft es wieder einmal, dass einem schon das Hinschauen weh tut. Da hängt eine nackte Frau senkrecht an der Wand. Ihr einziger Halt ist ein Fahrradsattel zwischen den Beinen, die Performerinnen müssen eine gewaltige Körperspannung aufbieten.

Ist hier die Grenze dessen erreicht, was man in einer Live-Art-Ausstellung zeigen kann? Klaus Biesenbach hat zusammen mit Hans Ulrich Obrist die Ausstellung kuratiert.

"Man hat das extreme Licht der Marina Abramovic, und die Situation, die Sie beschreiben, die bis an die Schmerzgrenze geht. Man hat ein totales Schweigen. Aber Santiago Sierra hat eine extrem physische, fast bedrohliche Interaktion. Also, ich glaube, worum es wirklich geht, ist, dass das alles Erfahrungen sind, die man hoffentlich in der Form noch nicht gemacht hat, und die halt so divers sind, so verschieden sind. Und es ist ein Spaziergang durch diese elf, zwölf Räume, die dann zu 13 Räumen werden, und so wird das Haus weiterwachsen."

Einer der radikalsten Räume ist nur als Idee vorhanden. Zettel hängen an der Wand, in denen John Baldessari aus Kalifornien vorschlägt, eine Leiche auszustellen. Die Zuschauer sollen den Toten durch ein Guckloch von den Füßen aufwärts anschauen. Der Umgang mit dem Tod im Leben und in der Kunst wäre das Thema gewesen. Doch niemand traute sich bisher, das Konzept zu realisieren.

"In der Kunst wissen wir sehr wenig über die unrealisierten Projekte. Deshalb sind also unrealisierte Projekte etwas sehr Faszinierendes. Was würden Künstler gerne machen außerhalb dieser Parameter des Möglichen, und wenn man die Spielregeln verschiebt, ist es ja vielleicht möglich. Und Baldessari war sehr überrascht, dass jemand wirklich versucht hat, dieses Projekt zu realisieren. Er war fasziniert von den Hunderten von Briefen."

Es gibt auch spielerische Räume. Damien Hirst zum Beispiel setzt genau gleich gekleidete Zwillinge unter leicht verschiedene Vierecke mit bunten Punkten. Einer der eindrucksvollsten Räume ist die menschliche Drehtür von Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla. Zehn junge Leute halten sich an den Händen und drehen sich durch den Raum, stoppen, wechseln die Richtung, werfen die Beine hoch wie eine absurde Chorus Line, nehmen die Drehbewegung wieder auf. Wer sich ihnen in den Weg stellt, wird weiter gedrängt. Menschen werden zur Maschine, die gnadenlos läuft, niemand schaltet sie ab. Widerstand ist zwecklos.

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"Fazit live" zur Eröffnung der Ruhrtriennale aus der Jahrhunderthalle in Bochum