Der Traum von der Integration

Von Stefan Keim · 28.10.2010
37 Jugendliche, die sich in den Bochumer Kammerspielen als "The Next Generation" vorstellen, teilen einen gemeinsamen Traum - den der Integration: Sie wollen dazu gehören, Familie haben und eine Arbeit, die ihnen Spaß macht.
Der Beat pulsiert, die Botschaft ist friedlich. "Kurden, Russen, Deutsche, wird sind alle eins, denn wir sind alle Freunde", singen junge Leute aus dem Ruhrgebiet. Sie haben die Gesten der Rapper drauf, doch niemand inszeniert sich hier als Gangster. Und wenn, dann nur zum Spaß. Um Klischees auszuhebeln. 37 Jugendliche, die sich in den Bochumer Kammerspielen als "The Next Generation" vorstellen, teilen einen gemeinsamen Traum: Sie wollen dazu gehören, Familie haben und eine Arbeit, die ihnen Spaß macht und von der sie leben können. Mit einem Wort: Sie wollen Integration.

Vor vier Jahren entwickelte der Dramatiker und Regisseur Nuran David Calis in Essen den Prototyp eines interkulturellen Theaters. In "Homestories – Geschichten aus der Heimat" spielten, sangen, tanzten Jugendliche aus dem Stadtteil Katernberg ihre Wünsche, Ängste, Lebensentwürfe. Ein berührender, naiver, direkter Abend, getragen von der Offenheit und dem Herzblut der Darsteller. Im Jahr der Kulturhauptstadt wurde dieses Projekt auf das ganze Ruhrgebiet erweitert. Zwischen Duisburg-Marxloh und Herne entstanden neun Zukunftshäuser, in denen Ghettokids mit professionellen Musikern, Choreographen und Regisseuren Performances, Filme, Songs erarbeiteten.

Nuran David Calis, Sohn armenisch-jüdischer Eltern, ehemals Türsteher, ein Theatermensch mit street credibility, beobachtete Explosionen von Kreativität. Er lud zu einem etwas anderen Casting ein, ohne Druck, ohne oberschlaue Ratschläge. Wer mitmachen wollte, durfte das tun. Die Jugendlichen bekamen einen Fragenkatalog per E-Mail. Nach ihren Träumen und Talenten wurde gefragt, und was der Begriff Metropole für sie bedeute. Aus den Antworten montierten Calis und die Dramaturgen das Stück, eine offene Collage aus Gedankensplittern, Songs, Shownummern, laut, energiegeladen – und immer wieder still und nachdenklich.

Ein Steg ragt ins Publikum, die Bühne ist am Anfang leer. Auf einer Leinwand weht die schwarzrotgoldene Flagge, und ein Sprecher sülzt im Fernsehprofiton von einem Deutschland, das sich wieder auf sich selbst besonnen habe. In das der wirtschaftliche Erfolg zurückgekehrt sei und in dem nur noch ein paar Fußballprofis fremdländische Namen trügen. Der Name fällt nicht, doch wahrscheinlich denkt jeder im Parkett an Thilo Sarrazin. Das Bild verschwimmt, ein Piratensender hackt sich ins Programm. Ein junger Mann ergreift im Namen einer Widerstandsgruppe das Wort. Die Jugendlichen stürmen die Bühne, erobern das Theater, schieben rollende Tribünen herein, zeigen ihre Welt, machen Party. Ein Videoteam verfolgt einen Moderator mit schwarzen Locken, leichtem Akzent und heiserer Stimme, der die anderen nach ihren Träumen fragt. Ihre Gesichter werden live auf die Leinwand projiziert.

Immer wenn die Show zu kuschelig wird, schreit der Showmaster "Stopp!" Alle halten sofort inne. Dann geht er hinter die Tribünen, findet Leute, die nicht mitfeiern wollen. Ein Junge aus dem Irak erzählt, dass er mit seinen Eltern ein Jahr und acht Monate lang zu Fuß unterwegs war, um nach Deutschland zu kommen. Ein Pakistaner berichtet über Misstrauen und Hass gegen ihn und seine Familie, als sie in den USA waren. Weil alle Angst hätten, er würde Bomben legen. Knapp und klar sind die Geschichten, Sentimentalität kommt nicht auf. "Okay, dann leg Dich wieder hin", sagt der Moderator. Weiter geht´s. Party!

Diese Art Theater ist angreifbar. Wenn man vom intellektuellen Ross herab fragt, was das denn Neues bringt und ob die Träume der Jugendlichen nicht ziemlich banal sind. Ja, sind sie. Und natürlich kann man solche und ähnliche Geschichten auch woanders lesen und hören. Doch an diesem Abend bekommen sie Gesichter und Körper. Die Jugendlichen sprechen manchmal in die Kamera, aber ebenso oft direkt ins Publikum. Sie sind da, im gleichen Raum, man kann sie nicht wegklicken. Und will es auch gar nicht, denn trotz manch fieser Erlebnisse, die sie schildern, trotz der Unsicherheit, ob ihre Familien nicht bald ausgewiesen werden, trotz Begegnungen mit Neonazis, sind sie nicht aggressiv. Im Gegenteil, sie versprühen eine mitreißende positive Energie, Lust auf Zukunft.

Ältere Leute aus dem Ruhrgebiet erscheinen per Video. Sie tragen weiße Gewänder, werden als "Götter" angesprochen. Und erzählen von früher, der eigenen Jugend, aber auch davon, dass sie nicht Türkisch lernen wollen, um sich in einem Supermarkt in Duisburg-Marxloh noch verständlich machen zu können. Die Jugendlichen kommentieren die Äußerungen mit Beifall und lauten Pfiffen. Sie sehnen sich einerseits nach Autoritäten, haben aber gelernt, nicht allen zu vertrauen. Aus leidvoller Erfahrung. Im Foyer nach der Vorstellung mischen sich Theaterstammgäste, Angehörige und Jugendliche, trinken was, sprechen miteinander. Das Gemeinschaftsgefühl, das sich in der Aufführung eingestellt hat, hält noch ein bisschen an. Verständigung und Dialog scheint plötzlich keine Utopie mehr, die Erkenntnis, in einer Welt zu leben und nicht in Parallelgesellschaften. Vielleicht machen Nuran David Calis und das Schauspielhaus Bochum genau das Theater, das wir gerade brauchen.

Zum Thema:
Schwerpunkt "Next Generation" auf Deutschlandradio Kultur
Homepage des Schauspielhauses Bochum