Der Traum vom großen Gefühl

17.05.2013
Der Musikjournalist Holger Noltze ist Professor für Musik und Medien an der Universität Dortmund. Mit "Liebestod" analysiert er, warum die Opern von Wagner und Verdi auch heute noch faszinieren. Ein wunderbares Buch über die Oper an sich und ihr wirkungspsychologisches Betriebssystem.
Wenn Aida und Radames in Verdis Ägyptenoper eingemauert und singend ihren gemeinsamen Liebestod sterben, wird der Traum vom großen Gefühl, nach dem sich der Opernbesucher sehnt, auf beispielhafte Weise realisiert. Verdi, so schreibt der Dortmunder Musikprofessor Holger Noltze in seinem Buch zum 200. Geburtstag Wagners und Verdis, "hatte in Aida den Schlüssel zu dieser letzten Grabkammer versteckt." Er meint damit die letzte, schönste Grabkammer jenes "Museums der Gefühle", als das er die Oper versteht.

Sein Buch soll ein "nächtlicher Gang" durch jenes Gefühlsmuseum sein, mit dem staunend-kühlen Blick des Archäologen. Es ist daher alles andere als eine Doppelbiografie Wagners und Verdis, eher eine "Erkundung, wie wenn man vom Kraterrand eines heftigen Einschlags aus die Umgebung erforscht" und bei der es um nicht nichts weniger als "den Traum vom großen Gefühl" geht.

Das Buch ist denn auch eine Expedition, die nach Babylon und Norwegen führt (Nabucco und Der fliegende Holländer), nach Brabant und Paris (Lohengrin und Traviata), nach Ägypten und Cornwall (Aida und Tristan), doch auch in weit entferntere, um nicht zu sagen tiefere Gefilde. Es ist ein Buch über die Oper, die sich im Zeitalter Wagners und Verdis als Spiegel politischer, gesellschaftlicher, aber vor allem seelischer Utopien und Sehnsüchte des Bürgertums verstand.

Das romantische 19. Jahrhundert hat die Brüche und Abgründe der menschlichen Existenz entdeckt und in der Idee des Liebestods am radikalsten auf die Opernbühne gebracht. Damit erklärt Holger Noltze auch unser nach wie vor existentes Bedürfnis nach Oper, die weit mehr preisgibt, als im Opernführer steht.

Schmerzmittel gegen Liebesnot
"Liebe und Tod, das sind die Themen der Oper von Anfang an, und sie sind untrennbar miteinander verbunden. Der Mensch, wenn er wahr singt, singt vom Elementaren, von dem, was er fürchtet, von dem, worum er am meisten bangt." Holger Noltze hat recht. Schon die Barockoper, aber auch Mozart und da Ponte haben den Tod als ersehntes Schmerzmittel gegen Liebesnot auf der Opernbühne besingen lassen. Aber erst das 19. Jahrhundert hat das Motiv des Liebestods im Sinne von Verschmelzung, ja Verwirklichung im Jenseits auf die Spitze getrieben, ob Bellini in "I Capuleti e I Montecchi" oder Meyerbeer in "L´Africaine". Doch Verdi und Wagner waren, so überzeugt uns der Autor in detaillierten Werkanalysen, die unübertroffenen Meister des Liebestods.

Sein Buch führt den Leser an dessen Beispielen bei beiden Komponisten ins tiefste "Untergeschoss der Gefühle", nach dem der Opernbesucher sich sehnt. Eben darum weint er doch so gern, wenn Isolde ihr "mild und leise" anstimmt oder Aida und Radames sich in der Grabkammer ins Jenseits singen. Das Bedürfnis danach, sich in der Oper bewegen und rühren zu lassen, ist um so größer, "je weiter uns der Alltag von den großen Gefühlen trennt oder sie für Reklamezwecke aller Art gebraucht und zurichtet", schreibt Holger Noltze.

Er hat ein wunderbares Buch über die Oper geschrieben, die Oper Verdis und Wagners, aber auch über die Oper an sich und ihr musikalisch-dramaturgisches wie wirkungspsychologisches Betriebssystem. Ein Buch für Kenner, das aber auch den nicht-spezialisierten, entdeckungsbereiten Opernfreund für eine Fahrt dahin rüstet, "wo Musik aufs Ganze geht, auf das große Gefühl, auf Leben und Tod."

Besprochen von Dieter David Scholz

Holger Noltze: "Liebestod. Wagner. Verdi. Wir"
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013
448 Seiten, 24,99 Euro
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