Der Streit um den Zeitpunkt des Todes

Von Brigitte Lehnhoff · 24.03.2012
Die Politik will mehr Bürger für Organspenden gewinnen. Kritiker vermissen einen wichtigen Punkt in der Debatte: Den Hirntod, der als Voraussetzung für eine legale Organentnahme gilt. Sie bezweifeln, dass der Hirntod als Kriterium geeignet ist. Ein Kommentar von Brigitte Lehnhoff.
Ärzte, Ethiker und auch Theologen haben in den vergangenen Jahren den Deutschen Ethikrat, dem auch Vertreter der großen christlichen Kirchen angehören, mehrfach scharf kritisiert. Das politikberatende Gremium sitze die international neu entfachte Debatte über den Hirntod einfach aus. Es scheue die überfällige Diskussion wie der Teufel das Weihwasser. Denn das Thema Organspende sei in Deutschland vermutlich erledigt, wenn man offen zugebe, dass der Hirntod eben nicht gleichbedeutend mit dem Tod eines Menschen sei. Nun hat der Ethikrat das Thema zwar auf seine öffentliche Tagesordnung gesetzt. Wer aber erwartet hatte, dass wenigstens die Vertreter der Kirchen Zurückhaltung und Bedenkzeit anmahnen vor einer Ausweitung der Organspende, sah sich getäuscht. Evangelische wie katholische Theologen geben weiterhin ihren Segen zur Organspende. Damit unterstützen sie eine Entwicklung, die hirntote Menschen zu nützlichen Objekten degradiert.

Wie die katholische Kirche dem Hirntoddilemma entgehen will, offenbarte der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Bei der Diskussionsveranstaltung in Berlin bestätigte er zunächst berechtigte Einwände gegen das Hirntodkonzept. Ja, tatsächlich könne der menschliche Organismus weiter funktionieren, auch wenn wesentliche Gehirnfunktionen unwiderruflich zerstört seien. Aber, so fragt Schockenhoff, wie kann es dazu kommen? Doch nur, weil der Hirntote künstlich beatmet werde. Allein die Maschine ist demnach die treibende Kraft, nicht der menschliche Orga-nismus. Weil es sich also nicht um bewusste, selbstbestimmte Reaktionen han-dele, könne man einen Hirntoten nicht mehr als lebendige Person bezeichnen, so der Theologe.

Das widerspricht nun allerdings den Erfahrungen des amerikanischen Neurologen Alan Shewmon. Er hat zahlreiche Fälle hirntoter Patienten dokumentiert, deren Organismus trotz diagnostizierten Hirntods weiter funktionierte, etwa Wunden heilte, schwitzte, Ausscheidungen produzierte, schwangere Hirntote können sogar Kinder austragen. Diese Erfahrungen verwandelten den Arzt vom erklärten Befürworter zum Gegner des Hirn-todkonzepts. Vor dem Berliner Publikum sagte Shewmon, das Gehirn sei zwar verantwortlich für bestimmte Körperfunktionen, nicht aber für das menschliche Sein. Deutsche Transplantationsmediziner sehen das offenbar anders, folgt man dem Standpunkt der Münchener Neurologin Stefanie Förderreuter: Ohne Gehirn ist der Mensch als körperlich-geistige Einheit nicht mehr existent und deshalb ist er tot.

Von diesem Gedankengang ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der für die Transplantationsmedizin entscheidenden Frage: Ist das, was übrig ist von einem Menschen, wenn er hirntot ist, noch erhaltenswert? Nein, lautet die eindeutige Antwort der Münchener Ärztin. Darf man nun diesen Hirntoten künstlich beatmen, um ihm Organe in einem transplantationsfähigen Zustand zu entnehmen? Der katholische Theologe Eberhard Schockenhoff beantwortet diese Frage mit Ja, wegen des großen medizinischen Nutzens für andere.

Der Ausweg aus dem Dilemma besteht also darin, die Gleichsetzung von Hirntod und Tod auf neue Weise zu rechtfertigen. Nachdem die naturwissenschaftlich-medizinische Begründung widerlegt ist, liefern Theologie und Medizin nun eine anthropologische, also auf das menschliche Sein bezogene. Das bedeutet: Ärzte und Theologen können am Hirntodkonzept festhalten, ohne in Konflikt mit dem Tötungsverbot zu kommen und die Transplantationsmedizin steht nicht vor dem Aus. In beiden Kirchen warnen zwar Kritiker davor, sich einer herrschenden Ethik anzupassen, die offensichtlich von den Interessen der Transplantationsmedizin geleiten wird. Sie kamen allerdings im Berliner Forum nicht zu Wort.

Womöglich hätten sie gefragt, warum der kirchliche Slogan "Organspende ist ein Akt der Nächstenliebe" nur die Organempfänger im Blick hat. Womöglich hätte sie auch gefragt, wie es denn um die Nächstenliebe für Organspender und ihre Angehörigen steht. Denn ihnen bleibt ein ungestörtes Sterben und Abschiednehmen verwehrt. Wäre nicht – neben allem Bemühen, Menschenleben zu retten – das die ureigenste Aufgabe der Kirchen: Menschen ein begleitetes, friedliches Sterben zu ermöglichen?
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